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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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kennst   du   ihn denn? Das finde ich aber jetzt interessant!«
    Zum Beweis dafür, wie interessant sie es findet, dreht sie sich auf ihrem Sitz ein wenig in Valeries Richtung, was Valerie total aufdringlich und affektiert findet, und sie hat den dringenden Impuls, aufzustehen und auf die Toilette zu gehen, aber da die Toilette leider besetzt ist, muss sie aufstehen und im Zug spazieren gehen.
    Back in good old Hundescheiße-City bringt ihre Mutter es natürlich fertig, die ganze Zeit über so auszusehen, als wollte sie fragen: »Also,   hier   hast du dich entschlossen zu leben?« Immerhin fragt sie es nicht wirklich, und sie sagt auch nichts zu Valeries Wohnung, die natürlich unaufgeräumt ist, auch wenn Valerie jetzt wiederum froh ist, dass es bei ihr nicht allzu viel zum Aufräumen gibt.
    »Wird sein Sohn auch da sein?«
    »Woher soll ich das denn wissen, Valerie?«
    »Ich komme mit ins Krankenhaus.«
    »Warum willst du denn mitkommen, Valerie?« Ihre Mutter hat ihre dämliche Louis-Vuitton-Reisetasche abgestellt und sich auf die äußerste Kante des Bettes gesetzt, als wollte sie sagen: Bevor ich hier schlafe, musst du das aber noch mal neu beziehen, und Valerie fragt sich, wie das überhaupt gehen soll in dieser Wohnung: schlafen, und: sie beide. Sie hat nur dieses eine Bett. Aber ihre Mutter sieht nicht aus, als würde sie freiwillig in ein Hotel gehen.
    »Ich hab doch schon gesagt, dass ich ihn kenne.«
    »Valerie, wie soll ich dir denn   helfen , wenn du nicht ehrlich zu mir bist?«
    »Wer sagt denn, dass du mir helfen sollst, ich   will   überhaupt nicht, dass du mir hilfst, ich brauche deine verdammte Hilfe nicht!«
    »Schon gut, Valerie, du brauchst dich nicht aufzuregen.«
    Gut. Gehst du jetzt ins Hotel?
    »Nur eine Sache, Valerie, ich fände es   wirklich nett   von dir, wenn du im Krankenhaus deine Mütze ausziehen würdest.«
    In ihrem Zimmer hat sie das Gefühl, ersticken zu müssen. Das ist deine Mutter da neben dir, die in ihr Kissen schnarcht, du bist 23 und lebst allein und hast mit einer wirklich beachtlichen Anzahl an Männern geschlafen, und jetzt liegst du hier mit deiner   Mutter   im Bett und wartest schlaflos auf den Morgen, aber was kommt, ist nur das Grauen. Es kriecht heran und frisst das Licht, das gerade herauskommen will, und mit dem Licht frisst es alle Kraft und alle Munterkeit in sich hinein. Immer wieder, als säße sie auf einem Kreisel, der sich unaufhörlich dreht, denkt sie an die Verabschiedung am Nachmittag: Wie Thomas, nicht mehr so abweisend wie noch im Krankenhaus, aber schon wieder nicht mehr so nah wie bei ihrem Spaziergang in Dahlem, sich mit einem »Bis bald« von ihr verabschiedet, wie es schon Tausende vor ihm getan haben, »Bis bald«, völlig unverbindlich, und ihr dazu seine   Hand   hingehalten hat, als sei sie nichts weiter als, als … Und dass sie nicht beantworten kann, was sie denn eigentlich von ihrem Wiedersehen erwartet hat, macht die Sache noch schlimmer:   Was hast du denn geglaubt, Valerie? Ihr habt euch über zwei Jahre nicht gesehen!   Sie schlägt die Bettdecke zurück und setzt sich auf die Bettkante. Stützt sich mit den Händen auf, will aufstehen, sich setzen, legen, will einfach verschwinden, aus sich hinausfließen und im Boden versickern.
    »Was ist denn los?«, flüstert ihre Mutter hinter ihr. »Warum weinst du denn, Valerie?«
    Du sagst es ihr nicht, hörst du, sie wird dir sowieso nicht glauben, sie wird dir nur irgendwie helfen wollen und dir die Kehle zudrücken mit ihrer Hilfe, und deswegen sagst du jetzt nichts, Valerie, am besten gehst du einfach, gehst jetzt sofort, egal wohin, und wenn du die ganze Nacht draußen rumrennst, aber dann bringt sie es fertig, die Polizei zu holen und nach dir zu suchen –
    »Mama, ich glaube –«
    Du sagst es nicht.   Du sagst es nicht!
    »Mama, ich glaube, ich habe Bernhard umgebracht.«
    Dazu dieses Gefühl, als würde ihre Kehle schon   längst   zugedrückt, sie kann nicht schlucken, und dieses Schütteln lässt sich nicht kontrollieren. Eine Hand auf ihrer Schulter. »Ach, Valerie.«
    Eine Hand auf ihrer Schulter, die den Rücken hinunterstreicht und dann wieder herauf. »Ach, Valerie, mein Schatz.«
    Bernhard in der Badewanne, überall Blut: Es ist nichts dagegen zu machen, und alle Tüten, die sie sich vor Mund und Nase hält, um nicht zu hyperventilieren, helfen da nicht. Es gibt die Bilder. Mag darunterstehen, was dort eben steht, aber es gibt die Bilder.
    Ihre

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