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Gibraltar

Gibraltar

Titel: Gibraltar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Reh
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Erklärung dafür hat,   warum   es schön war.
    »Du siehst aus wie jemand, der sich im Spiegel mit   Sie   anredet«, sagt sie, während sie langsam damit beginnt, sich anzuziehen.   »Entschuldigen Sie, ich kenne Sie nicht. Was tun Sie in meinem Spiegel? Rasiert werden wollen Sie? Okay, wenn Sie schon mal da sind, rasiere ich Sie eben, aber glauben Sie ja nicht, dass ich deswegen Du zu Ihnen sage!«   Er lächelt. Das ist zumindest ein Anfang.
    »Was bringt dir eigentlich deine Platzangst?«, fragt sie, um den Spieß mal umzudrehen.
    Seine Stimme klingt heiser. »Es ist keine Platzangst. Mehr … Menschenangst.«
    »Und was bringt dir deine Menschenangst?«
    »Ich weiß nicht.« Thomas beginnt jetzt ebenfalls, sich wieder anzuziehen, sucht unter der Decke nach seiner Unterhose, damit sie ihn nicht nackt sieht, was sie einigermaßen süß findet. »Doch«, sagt er, als sie schon fast wieder vergessen hat, was ihre Frage war. »Ich habe immer einen guten Grund, mich aus dem Staub zu machen. Verantwortung abzulehnen.«
    »Was ist denn so schlimm an Verantwortung?«
    Er zuckt die Schultern. »Dass man ihr nicht gerecht wird.«
    »Und tut das der Verantwortung weh?«
    Thomas lächelt. »Keine Ahnung.« Inzwischen ist er angezogen, wohingegen sie noch immer bei ihrem T-Shirt ist, auch deswegen, weil ihr kein Grund einfällt, weswegen sie sich beeilen sollte. »Okay. Was kann man noch fragen?«
    Er denkt nach. »Die Wunderfrage.«
    »Ah. Was würdest du tun, wenn die Angst über Nacht verschwunden wäre?«
    »Nicht schlecht«, sagt er. »Ich glaube … mal sehen. Länger schlafen.«
    »Das gilt nicht«, sagt sie empört und wirft die Hose nach ihm, die sie sich gerade anziehen wollte. Er lacht. Sie lachen beide. Für einen Moment ist die Schwerkraft aufgehoben, ihr Lachen schwebt durch den Raum, und alles ist haargenau so, wie es sein muss. Als sie fertig gelacht haben, richtet sich Thomas auf und wird ernst, und dann ist plötzlich wieder alles zurück auf null, oder wo immer die Startposition ist.
    »Ich glaube, es wird Zeit.«

6
    Valerie sitzt im Sand und hört den Wellen zu, die ganz leise plätschernd ans Ufer schlagen, gar nicht wie ein Meer eigentlich, sondern wie die Wellen eines Sees, nachdem ein Ruderboot vorbeigekommen ist, oder vielleicht auch nur eine Ente, ganz zart und leise plätschert es, und es ist das einzige Geräusch, das sie an sich heranlässt. Was sie Thomas in dieser Dünung begreiflich machen wollte, ist jetzt weit, weit entfernt. Da ist noch ein anderes Geräusch, eine Stimme, aber Stimmen möchte sie im Moment nicht hören. Sie weiß ohnehin, was sie ihr erzählen, die Stimmen:   Siehst du, siehst du, siehst du , werden sie sagen. Sie greift zu beiden Seiten ihres Körpers tief in den trockenen Sand und versucht, ein wenig Lebensenergie aus dem Boden zu ziehen, aber seltsam, da ist überhaupt keine Lebensenergie drin, man könnte meinen, der Boden sei stocktot. Trotz der Medikamente fühlt sie diesen Schock wie eine Eisenplatte, die sich langsam auf sie herabsenkt und von der Sonne abschirmt, vom Licht und von den anderen Menschen, und die sie unter Einsamkeit begraben wird. Sie hat es nicht anders verdient, denn sie hat das heiligste Tabu gebrochen. Das Bild des leblosen Körpers in der Badewanne überstrahlt jedes andere, es versteht sich von selbst, es braucht keine Beschriftung. Auch wenn sie sich nicht erinnern kann, was geschehen ist, so weiß sie doch, dass sie dafür büßen und qualvoll in der Hölle schmoren wird, oder wo auch immer sonst man qualvoll schmoren kann.
    Und irgendwann bemerkt sie, dass die Stimmen, die sie nicht hören will, nicht von den Aktionären kommen, sondern von jemandem mit Körper, sie spürt ihn neben sich. Thomas. Sie erinnert sich, sieht ihn an, lässt schwer ihren Kopf auf seine Schulter fallen und sitzt dann so jahrelang.
    Und irgendwann sagt Thomas zu ihr: »Das alles ist nicht passiert, Valerie. Er ist nicht tot.«
    »Was soll das«, flüstert sie.
    Thomas versucht, sie festzuhalten. Es gibt keinen Grund, eine Lüge zu glauben, nicht mal, wenn sie wahr ist. Sie hört sich schreien, niemand darf sie festhalten. Sie rennt, Thomas wird nicht aufgeben, er ist schneller als sie. Die Brandung durchnässt ihre Schuhe.
    Sie holen Bernhard auf der Schnellstraße ein. Einen einzelnen Mann, wo sonst keiner geht, mit einer schweren Tasche und Anzug. Sie erkennt ihn von Weitem. Sie denkt gleichzeitig   Das ist er   und   Das kann er nicht sein,   und

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