Gibraltar
über die Schulter und redete weiter.
»Er wird sowieso bald sterben, und zwar qualvoll. Natürlich kommt er auf den Gedanken, sich umzubringen, statt sich weiter beim Verfallen zuzusehen. Aber jeden Tag, den es schlimmer wird, kommt der Hoffnungsfunke zurück: Was, wenn sich die Krankheit von selbst heilt? Was, wenn es gar kein irreversibler Prozess ist, sondern nur eine vorübergehende Erscheinung?«
Carmen war noch immer hinter ihm. Er konnte förmlich sehen, wie sie die Stirn runzelte und mit gespielt amüsiertem Befremden in die Runde schaute.
»Sag mal«, unterbrach sie ihn, »weißt du eigentlich, wann Valerie zurückkommt?«
Er wandte nur halb den Kopf. »Ich wusste nicht mal, dass sie weg ist.«
»Ja, sie hat gesagt, sie geht einen Freund besuchen. Sie ist ja so wütend auf dich –«
»Warum fragst du mich, wo sie ist, wenn du es selbst weißt?«
»Ich habe nicht gefragt, wo sie ist, sondern nur, wann sie wiederkommt.«
Er fuhr herum. Musste zu ihr aufsehen. Ausgeschlossen, so mit ihr zu sprechen. Sprang auf. Verlor beinahe das Gleichgewicht, musste sich am Tisch stützen. Stand vor ihr und hatte vergessen, was er sagen wollte. Schüttelte den Kopf. »Kann ich jetzt meine Geschichte zu Ende erzählen?« Er lallte.
»Natürlich«, sagte sie mit leichter Stimme und trat einen Schritt zurück. Er setzte sich wieder.
»Wo war ich stehen geblieben? Also, okay. Er denkt sich: Vielleicht bin ich gar nicht krank. Aber in Wirklichkeit ist das nur Feigheit. Jeden Tag träumt er den kleinen Traum der Hoffnung und so weiter, aber mit jedem Tag wird er immer ekelhafter, immer abstoßender. Ein Tier, ein Monstrum, nicht mehr als Mensch zu erkennen, unzumutbar für jede Gesellschaft. Eigentlich hat er die Verpflichtung, sich endlich aus der Welt zu schaffen, jetzt, gleich, es ist höchste Zeit. Aber er schafft es nicht. Er wartet, jeden Tag, dass es besser wird. Und den nächsten. Und den nächsten. Und jeden Tag geht ein weiteres Stück seiner Würde verloren. Er weiß genau, was zu tun ist. Warum tut er es nicht?«
Er sah in die Runde. Alle wirkten betreten. Er lächelte. Drückte den Stumpen aus.
»Warum tut man es nicht?«
Stand auf.
15
Bernhard holte sein Telefon hervor und gab es Jemal. »Go for it.«
Jemal fischte einen abgegriffenen Zettel aus seiner Tasche, dann mühte er sich mit der Displaysperre ab. Bernhard half ihm. Jemal tippte die Nummer ein und wartete, bis es zwanzigmal geklingelt hatte. Dann gab er Bernhard das Telefon zurück. »Thank you.«
»Nobody at home?«
Jemal wechselte erneut einen Blick mit Dem und Ousmane. Dann sagte er: »I will try later. If you allow.«
»You go doctor!«, mischte unvermittelt Dem sich ein, ungeduldig. Bernhard sah zu Jemal, als sei er ein Verbündeter. Der sagte: »Look. You are European. We need your help. You have a … how do you call it? An assurance?«
»A medical insurance?«
»Yes! You can go to the doctor to get … antibiotique . For Tafa.« Er deutete auf den bewegungslosen Körper am Boden.
»I can’t go to the doctor. I’m wanted. By the police.«
»What? Why?«
»I’m a bankrobber.«
Jemal sah ihn an, als habe Bernhard ihn geohrfeigt. Er übersetzte den beiden anderen, was Bernhard gesagt hatte. »Il dit qu’il a dévalisé une banque.« An Bernhard gerichtet: »You don’t look like a bankrobber.«
»I am. Believe me.«
»Then you have money? Lots of money?«
»Not yet.«
»But you can buy medicine.«
»Not the one you need. I won’t. I’m wanted.«
Ousmane warf wütend die Brechstange weg, packte Bernhard mit beiden Händen am Kragen, drängte ihn gegen die Wand. Bernhard konnte die Äderchen in seinen Augen sehen. Jemal redete auf ihn ein, hielt ihn aber nicht zurück.
»Take your hands off!«, schrie Bernhard. Erkannte echte Empörung in seiner Stimme. Spürte die Empörung. »Leave me alone!«
Ousmane hielt ihn weiter fest. Sein Gesicht war dicht vor Bernhards. Jemal redete auf Französisch auf ihn ein, bis er Bernhard losließ. »Please«, sagte Jemal von der Seite. Es klang flehend. »We won’t hurt you. But if you won’t help us, Tafa will die.«
»That’s not my problem«, hörte Bernhard sich sagen. Er sah niemanden an. »I can’t help you.« Ohne noch etwas hinzuzufügen, trat er zwischen Dem und Jemal hindurch, ging die Treppe hinunter ins Erdgeschoss und durch die Lobby hinaus.
Auf dem Kies spürte er seine Beine wieder. Sie hatten die ganze Zeit gezittert. Er ging ein Stück. Zündete sich
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