Gib's mir, Schatz!: (K)ein Fessel-Roman (German Edition)
ungläubig. »Du meinst, ich habe die Chance, es Ramon heimzuzahlen?«
Annes Mutter ließ sich Zeit mit der Antwort. Sie schüttelte das Bett auf, räumte das Teegeschirr zusammen und hauchte ihrer Tochter einen Abschiedskuss auf die Wange. Dann erst sagte sie: »Du wirst ihn ausatmen. Wenn du möchtest, helfe ich dir gern dabei.«
***
Am nächsten Tag stellte Annes Hausarzt fest, dass sie tatsächlich eine leichte Gehirnerschütterung hatte, und schrieb Anne für den Rest der Woche krank. Er verordnete Bettruhe, leichte Kost und viel Schlaf. Der Heilpraktiker, den Oma Brownie schickte, pendelte Annes Kopf aus, sprach ein tibetanisches Gebet und verabreichte ihr ein homöopathisches Mittel. Sich selbst verordnete Anne eine Denkpause.
Die Tage verbrachte sie abwechselnd im Bett und auf der Dachterrasse. Es wurde immer wärmer draußen, als wollte der Frühling schon mal ein bisschen Sommer spielen. Der Oleander und die Hortensien standen in voller Blüte. Nur die leeren Pflanzkästen und die Beutel mit Erde erinnerten daran, dass auf diesem Balkon etwas fehlte, das Entscheidende fehlte: Lars. Wenn Anne dann im Liegestuhl in der Sonne lag, kam ihr in den Sinn, dass irgendwo im Mittelmeer Lars und Joachim unter derselben Sonne saßen, vielleicht eine Sandburg bautenoder im Meer badeten. Damit war die Denkpause meist beendet.
Je länger Anne über alles nachgrübelte, desto mehr verstärkte sich ihr Gefühl, dass Lars der Kurzurlaub mit seinem Vater gut tun würde. Wann hatte er Joachim denn schon mal für sich? Die paar Minuten morgens und abends reichten nicht, um einen bleibenden väterlichen Eindruck zu hinterlassen. Und selbst am Wochenende arbeitete Joachim oft oder war zu erledigt, um sich seinem Sohn zu widmen. So ein Jungsurlaub, fand Anne, war eine fabelhafte Sache.
Dann wieder stand sie tausend Ängste aus, meinte, in dieser Reise schon die Vorzeichen einer bevorstehenden Trennung zu erkennen. Ein furchtbarer Gedanke knüpfte sich daran: Wollte Joachim nach einer Scheidung Lars etwa für sich? Dann verfolgte er wohl den Plan, seinen Sohn schon mal an die neue Situation zu gewöhnen. Aber würde er wirklich die Stirn haben, Anne das Kind zu entreißen und es tagsüber, vor und nach dem Kindergarten, seinen Eltern zu überlassen?
Joachim schickte nur spärliche Botschaften, in seinem gewohnt knappen Telegrammstil: Gutes Wetter, hatten einen schönen Tag, Gruß, J. Lars jetzt Schwimmer. Besten Gr. J. Alles okay, J. Es war unmöglich, aus diesen Kürzeln irgendetwas über Joachims Pläne oder gar seine Gefühle zu schließen. Letztlich waren es nur Beweise, dass die beiden lebten.
Immer, wenn die vielen Gedanken in Annes Kopf überhandnahmen, setzte sie sich für eine Weile ins Kinderzimmer und malte. Ohne Plan, ohne Motiv, einfach aus dem Bauch heraus. Sie begann zu experimentieren. Einmal klebte sie eine kleine Spielfigur von Lars auf ein Bild, dann wieder kippte sie eine Tasse Espresso über das Blatt oder rieb Zucker in diefeuchte Farbe. Inzwischen hatte sie schon einen ganzen Stapel dieser ungewöhnlichen Aquarelle und fragte sich allmählich, was sie damit anfangen sollte.
Die einzige Abwechslung in diesen Tagen waren die Besuche von Tess und Oma Brownie. Tess brachte frühmorgens Brötchen und Zeitungen, Annes Mutter kam nachmittags mit Töpfen und Pfannen angefahren, in denen sie Gemüsesuppen, Grünkernbratlinge und Tofubällchen transportierte.
Am Freitagmorgen fand Tess ihre Freundin in einem desolaten Zustand vor. Anne wirkte angespannt und nervös, hatte ihr Sweatshirt verkehrt herum angezogen und vergessen zu duschen. Ihre Augen waren verweint.
»Süße, jetzt sag schon, was ist passiert?«, fragte Tess, als sie den Frühstückstisch deckte.
Anne strich sich mit beiden Händen durchs ungekämmte Haar. »Noch nichts. Aber heute ist Freitag.«
»Na und? Der dreizehnte ist es schließlich nicht.«
»Heute kommt Lars zurück«, erwiderte Anne mit brüchiger Stimme. »Aber Joachim hat mich nicht mal informiert, wann genau. Ich würde Lars so gern vom Flughafen abholen, weißt du.«
Tess legte drei Brötchen in den Brotkorb und stellte Butter und Marmelade dazu. Daneben legte sie die Morgenzeitung. Dann setzte sie sich hin und stützte ihr Gesicht in die Hände.
»Du könntest deine Schwiegereltern anrufen«, schlug sie nach längerem Nachdenken vor. »Die wissen bestimmt, wann die beiden ankommen.«
»Aber das ist doch krank!« Anne nahm ihr Messer und begann, ein Brötchen zu zersäbeln.
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