Gib's mir
das war Martin, typisch Martin.
Sobald er mich erreicht hatte, schlang er einen Arm um mich und zog mich mit einer dramatischen Geste an sich, als seien wir ein schmalziges Tango-Paar. Er drückte seine Lippen auf meine, und wir küssten uns – ein langer Schmatzer, den wir beide mit einem «Mmwah!» ausklingen ließen – ein Kuss, der eine lange Geschichte hatte.
«Nicht schlecht für einen Schuhkarton», sagte er und ging gleich weiter ins Wohnzimmer, wobei er seinen Kopf mal hierhin, mal dorthin wendete.
Er inspizierte die Räume und redete dabei in einem fort. Ich folgte ihm, erzählte ihm, wie klasse meine Wohnung wäre, und wies ihn auf all die tollen Sachen hin, die er sonst übersehen hätte: Guck mal, so viel Stauraum; hast du den Marmorkamin im Wohnzimmer gesehen?; und die Dusche, denn die ist nun wirklich der letzte Schrei; und die Gardinen, stell dir vor, Martin, die hab ich sogar selbst genäht. Echt selbstgemacht. Das verdient Bewunderung.
«Viele große alte Fenster», meinte er und schnalzte scherzhaft mit der Zunge. «Das muss im Winter ja super warm zu kriegen sein.»
«Scheiß drauf», gab ich leichthin zur Antwort. «Jetzt haben wir erst mal Sommer.»
Im Wohnzimmer fläzte Martin sich sofort aufs Sofa, stellte den Rucksack zwischen seine Füße und machte sich daran, das Band aufzuknoten. «Die Einladung zu deiner Wohnungseinweihung muss auf dem Weg zu mir irgendwo verloren gegangen sein», meinte er und wühlte dabei in seinem Rucksack.
«Ich mache das der Reihe nach», antwortete ich. «Nie mehr als drei Gäste auf einmal. Tee oder Kaffee?»
«Weder – noch», erwiderte er und brachte eine Flasche zum Vorschein. «Wir trinken Wein.»
Ich war bereits auf dem Weg in die Küche, als mich seine Worte wieder zurückholten. Ich drehte mich zu ihm um, unsicher, argwöhnisch. Das muss er mir wohl angesehen haben.
«Nur Wein», sagte er mit einem Anflug von Verzweiflung. «Kein Joint. Keine Sorge. Kein Gras.»
Ich lächelte entschuldigend.
«Es sei denn, du hast was da», fügte er mit einem schelmischen Grinsen hinzu.
Ich machte einen Satz nach vorn, um ihm in die Rippen zu boxen, und ein paar Sekunden lang quiekten wir und rauften, versuchten so wie früher miteinander umzugehen: wie alte Freunde, unkompliziert, unbeeinflusst von Körperlichkeit und Leidenschaft, die jeder von uns mit sich selbst abmachte. Das klappte einen Moment lang ganz gut, bis sich unsere Blicke trafen, ein bisschen zu lange; und von Martins Seite aus ein wenig zu verlangend.
Mit einem letzten spielerischen Boxhieb zog ich mich zurück und ging uns Gläser holen.
Oh, Martin. Zehn Jahre einer wundervollen Freundschaft, zerplatzt durch Sex.
Eine Ewigkeit lang hantierte ich in der Küche herum, wusch Gläser ab, die eigentlich gar nicht abgewaschen werden mussten, suchte nach einem Korkenzieher, den ich nicht wirklich suchen musste.
Nur wegen Martin. Er ist einer der wenigen Menschen, die ich schon seit meiner Ankunft in Brighton kenne, seit ich eine lustige kleine Studentin war, voll von Idealen und Partylaune. Über die Jahre waren wir miteinander gewachsen – Tränen, Freude, das ganze Programm. Er wurde für mich zu dem guten Kumpel, der meine Haare zusammenhalten konnte, wenn ich betrunken war und mich übergeben musste, ohne dass ich mich dabei selbst ekelhaft fand; wir kuschelten gemeinsam vor dem Fernseher und aßen Chips, sahen gruselige Filme; wir konnten uns über alles und jedes streiten – von «Die Frau/den Mann, mit der/dem du gerade zusammen bist, kann ich einfach nicht ab» bis zu «Du hast schon wieder die falsche Sorte Erdnüsse mitgebracht» – und uns ebenso einfach wieder vertragen.
Wir waren einander so vertraut wie ein paar alte Jeans, und wir liebten uns wirklich innig. Aber irgendwann geriet alles aus dem Ruder, und wir landeten miteinander im Bett.
Ich erklärte es mir als Resultat einer Kombination daraus, dass es Martin schlechtging, weil Emma ihn gerade abserviert hatte, und der bis dahin stillschweigend ertragenen Erkenntnis «Meine Liebe für dich ist mehr als nur das Bedürfnis, dich in den Arm zu nehmen». Es ist so schwierig, so verwirrend, wenn der Körperkontakt eingeschränkt ist, nicht jedoch die Liebe füreinander.
Also fanden wir uns irgendwann im Bett wieder – ein Fehler, den wir vier Monate lang wiederholten. Ich machte dem schließlich ein Ende; es fühlte sich einfach nicht in Ordnung an, irgendwie so, als würde ich mit meinem Bruder schlafen oder etwas in der
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