Gideon Crew 01 - Mission - Spiel auf Zeit
nichts einen Sinn ergab. Völlig irreal. Er legte die Hand auf den Türgriff, drückte die Tür auf und trat in die Gluthitze.
»Melvin …«
Ein Schluchzen.
»Bitte komm heraus. Niemand wird dir etwas antun, ich verspreche es. Bitte lass den Mann gehen.«
Die Stimme aus dem Megaphon klang schroff und fremdartig – und war doch unverkennbar die seiner Mutter.
Gideon drängelte sich durch die Grüppchen der Polizeibeamten und Armeeoffiziere nach vorn. Niemand schenkte ihm Beachtung. Er ging bis zur äußeren Absperrung und legte eine Hand auf das rauhe, blau gestrichene Holz. Er blickte in die Richtung der Arlington Hall, konnte aber weder vor der idyllischen Fassade noch auf dem nahe gelegenen Gelände, das von allen Leuten geräumt worden war, irgendeine Bewegung erkennen. Das Haus, das in der Hitze flirrte, wirkte wie ausgestorben. Draußen hingen die Blätter schlaff von den Ästen der Eichen, der niedrige Himmel war wolkenlos und so blass, dass er fast weiß wirkte.
»Melvin, wenn du den Mann gehen lässt, wird man dir zuhören.«
Wieder erwartungsvolles Schweigen. Dann bewegte sich auf einmal irgendetwas in der Eingangstür. Ein rundlicher Mann im Anzug, den Gideon nicht kannte, trat stolpernd aus dem Gebäude. Er blickte sich einen Augenblick lang orientierungslos um, dann rannte er auf seinen dicken Beinchen los, auf die Absperrungen zu. Vier Beamte mit Helmen auf dem Kopf stürmten mit gezückten Waffen hervor, packten den Mann und zerrten ihn hinter einen Kleintransporter der Spezialeinheiten.
Gideon duckte sich unter der Absperrung hindurch und drängelte sich durch die Gruppen der Polizisten, der Männer mit Walkie-Talkies, der Männer in Uniform. Niemand bemerkte ihn, keiner interessierte sich für ihn. Alle Blicke richteten sich auf den Vordereingang des Gebäudes.
Und dann ertönte hinter der Eingangstür eine leise Stimme. »Es muss Ermittlungen geben!«
Das war die Stimme seines Vaters. Gideon blieb stehen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.
»Ich verlange eine Untersuchung! Sechsundzwanzig Menschen haben ihr Leben verloren!«
Ein gedämpftes, elektronisch verstärktes Knistern, dann ertönte eine Männerstimme aus der Lautsprecheranlage.
»Dr. Crew, Ihre Anliegen werden berücksichtigt werden. Aber Sie müssen jetzt mit erhobenen Händen herauskommen. Verstehen Sie? Sie müssen sich ergeben.«
»Sie haben nicht auf mich gehört«, erschallte die bebende Stimme. Sein Vater klang verängstigt, fast wie ein Kind. »Menschen sind umgekommen, aber man hat nichts dagegen unternommen! Ich verlange eine Untersuchung.«
»Wir versprechen es Ihnen.«
Gideon war an die innerste Absperrung gelangt. An der Vorderseite des Gebäudes war noch immer alles ruhig, aber inzwischen stand er nahe genug davor, um erkennen zu können, dass die Tür halb offen stand. Es war ein Traum; bestimmt würde er gleich daraus erwachen. Ihm war schwindlig wegen der Hitze, und er hatte einen kupferähnlichen Geschmack im Mund. Es war ein Alptraum, der in der Realität spielte.
Und da sah er, wie die Tür nach innen schwang und sein Vater im schwarzen Rechteck des Türrahmens erschien. Vor der eleganten Fassade des Gebäudes wirkte er furchtbar klein. Mit erhobenen Händen, die Handflächen nach vorn weisend, trat er einen Schritt vor. Das glatte Haar klebte ihm an der Stirn, seine Krawatte hing schief, der blaue Anzug war zerknittert.
»Das ist weit genug«
, ertönte die Stimme.
»Halt.«
Melvin Crew blieb stehen und blinzelte ins helle Sonnenlicht.
Die Schüsse fielen so kurz hintereinander, dass es sich anhörte, als knatterten Feuerwerkskörper, gleichzeitig wurde er jählings zurück ins Dunkel der Eingangstür gestoßen.
»Dad!«, schrie Gideon, sprang über die Absperrung und lief über den heißen Asphalt des Parkplatzes.
»Dad!«
Hinter ihm ertönten Schreie, Rufe wie »Wer ist der Junge?« und »Feuer einstellen!«.
Er sprang über den Kantstein und rannte mitten über die Rasenfläche auf den Eingang zu. Männer liefen los, um ihn zurückzuhalten.
»Verdammt noch mal, haltet ihn auf!«
Er glitt auf dem Rasen aus, stürzte auf Hände und Knie, stand wieder auf. Er sah bloß die beiden Schuhe seines Vaters, sie ragten aus dem dunklen Türrahmen ins Sonnenlicht, die abgewetzten Schuhsohlen zeigten nach vorn, so dass alle sehen konnten, dass eine Sohle ein Loch hatte. Es war ein Traum, ein Alptraum – und dann war das Letzte, was Gideon sah, bevor er zu Boden gerissen wurde, wie sich die Füße bewegten,
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