Gideon Crew 01 - Mission - Spiel auf Zeit
zweimal zuckten.
»Dad!«, schrie er ins Gras und versuchte, sich aufzurappeln, während sich das Gewicht der Welt auf seinen Schultern auftürmte. Aber er hatte doch gesehen, dass sich die Füße bewegten, sein Vater lebte, er würde aufwachen, und alles wäre wieder gut.
2
Oktober 1996
Gideon Crew war mit einem Nachtflug aus Kalifornien gekommen, und das Flugzeug hatte geschlagene zwei Stunden auf dem Rollfeld des Los Angeles International Airport gestanden, bis es schließlich in Richtung Dulles abhob. Er hatte den Bus in die Innenstadt genommen und war anschließend mit der Metro so weit wie möglich gefahren, bevor er in ein Taxi wechselte. Das Letzte, was seine Finanzen gebraucht hatten, war die unerwartete Ausgabe für das Flugticket. Er hatte beängstigend schnell Geld verbrannt, war überhaupt nicht sparsam gewesen. Außerdem stand dieser letzte Job, den er erledigt hatte, stärker als sonst im Fokus der Öffentlichkeit, so dass die Ware schwer an den Mann zu bringen war.
Als der Anruf ihn erreichte, hatte er zunächst gehofft, es handle sich um einen weiteren falschen Alarm, eine weitere hysterische Attacke, ein erneutes alkoholseliges Flehen um Aufmerksamkeit. Doch gleich nach seiner Ankunft im Krankenhaus hatte ihm der Arzt kühl und unumwunden erklärt: »Die Leber Ihrer Mutter macht es nicht mehr lange, und wegen ihrer medizinischen Vorgeschichte kommt Ihre Mutter für eine Transplantation nicht in Frage. Es könnte Ihr letzter Besuch sein.«
Sie lag auf der Intensivstation, das blondierte Haar auf dem Kopfkissen ausgebreitet, die dunklen Haaransätze durchschimmernd, die Haut vom Alter gezeichnet. Irgendjemand hatte den traurigen, dilettantischen Versuch unternommen, Lidschatten aufzutragen. Es sah aus, als hätte man die Fensterläden eines Spukhauses gestrichen. Gideon hörte ihr röchelndes Atmen durch die Nasenkanüle. Das Licht im Zimmer war gedämpft, das leise Piepen elektronischer Geräte ständig anwesend. Plötzlich schlugen sein schlechtes Gewissen und sein Mitleid wie eine riesige Welle über ihm zusammen. Er hatte sich ganz auf
sein
Leben konzentriert, statt sich um seine Mutter zu kümmern. Doch jedes Mal, wenn er es früher mal versucht hatte, hatte sie getrunken und sich ihm entzogen, und am Ende hatten sie gestritten. Dennoch: Es war nicht fair, dass ihr Leben so endete. Es war einfach nicht fair.
Er fasste ihre Hand und wollte sie ansprechen, aber es fielen ihm keine passenden Sätze ein. Schließlich brachte er ein lahmes »Wie geht es dir, Mutter?« heraus und hasste sich ob der dümmlichen Frage, kaum dass er sie gestellt hatte.
Sie starrte ihn an. Das Weiße ihrer Augen hatte die Farbe überreifer Bananen. Mit ihrer knochigen Hand ergriff sie seine – eine schlaffe, zittrige Berührung. Schließlich regte sie sich ein wenig. »Tja, das wär’s dann wohl gewesen.«
»Mom, bitte sag nicht so etwas.«
Sie winkte ab. »Du hast doch mit dem Arzt gesprochen. Du weißt also, wie es um mich steht. Ich habe eine Leberzirrhose, samt all den netten Nebenwirkungen – von der Herzinsuffizienz und dem Lungenemphysem nach dem jahrzehntelangen Rauchen ganz zu schweigen. Ich bin ein Wrack, und es ist mein eigener verdammter Fehler.«
Gideon wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Natürlich hatte seine Mutter recht, und unverblümt war sie sowieso. War es immer gewesen. Trotzdem fand er es irritierend, dass eine so starke Frau so schwach war, was Alkohol anging. Nein, es sollte ihn nicht verwirren. Sie war ein Suchttyp – so wie er selbst.
»Die Wahrheit macht frei«, sagte sie, »aber zunächst macht sie dich unglücklich.«
Das war ihr Lieblingsspruch, den sie immer benutzte, wenn sie etwas zum Ausdruck bringen wollte, das ihr schwerfiel.
»Die Zeit ist gekommen, dir eine Wahrheit anzuvertrauen …«, sie holte, so gut es ging, Luft, »… die dich zunächst unglücklich machen wird.«
Er wartete, während sie wieder einige Male schnaufend einatmete.
»Es geht um deinen Vater.« Sie blickte mit ihren leberkranken Augen zur Tür. »Mach mal zu.«
Seine Angst wuchs. Sanft schloss er die Tür und trat zurück ans Bett seiner Mutter.
Wieder umfasste sie seine Hand. »Golubzi«, flüsterte sie.
»Wie bitte?«
»Golubzi – eine russische Roulade.« Sie hielt inne, um durchzuatmen. »So lautete der sowjetische Codename für die Operation. Die Roulade. In einer Nacht sind sechsundzwanzig Maulwürfe ›eingerollt‹, verhaftet worden. Und spurlos verschwunden.«
»Warum
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