Giebelschatten
Polizisten, die gefrorenen Spuren des Mordes aus dem Eis zu entfernen.
»Sie ist als kleines Kind mit ihrer Mutter nach Paris gekommen, die hier als Dienstmädchen arbeiten wollte«, fuhr Darbon fort. »Nach einem Jahr verlor die Mutter ihre Stelle – angeblich wegen eines geringfügigen Diebstahldeliktes –, und begann, auf der Straße anschaffen zu gehen. Josette –«
Pascin unterbrach ihn mit einer schroffen Handbewegung. »Ihr Name war Margot Sorel!« bellte er.
Darbon ließ eingeschnappt seine Tasse auf den Tisch krachen. »Margot«, begann er betont, »hatte nie eine wirkliche Chance. Ihre Mutter starb, als das Mädchen dreizehn war. Ein Jahr vorher hatte sie bereits begonnen, sich heimlich zu verkaufen. Nach dem Tod der Mutter stieg sie voll ins Geschäft ein.« Er seufzte. »Ihre Kolleginnen behaupten, sie habe stets genug verdient, um vernünftig davon leben zu können.«
»Wie alt war sie?« fragte Pascin, ohne den Blick von der leeren Gasse vor dem Fenster zu nehmen.
»Einundzwanzig.«
Pascin verfiel erneut in einen Zustand stummen Brütens.
In Ermangelung besserer Ideen begann Darbon, seine Blätter neu zu sortieren, als plötzlich draußen ein Dutzend Uniformierter erschien. Der Ranghöchste löste sich aus der Gruppe, kam herein, klopfte sich den Schnee von den Stiefeln und trat vor Pascin, um Meldung zu machen.
»Inspektor, wir haben jede Gasse in unserem Bezirk abgesucht. Es gibt keine Spur von dem Mann.«
»Sie können abtreten«, erwiderte Darbon zögernd, nachdem er bemerkt hatte, daß Pascin nicht reagierte.
Der Beamte deutete ein Kopfnicken an, verabschiedete sich und verschwand zusammen mit den anderen.
Darbon seufzte leise. Dies war die vierte und letzte Gruppe gewesen, die Pascin am Morgen hatte ausschwärmen lassen, um den ausgebrochenen Verrückten aus Blins Anstalt ausfindig zu machen. Es gab nicht einmal einen Hinweis.
»Was tun wir?« erkundigte er sich vorsichtig. Sicherheitshalber stellte er seinen Kaffee ab, um eventuellen Wutausbrüchen seines Vorgesetzten vorzubeugen.
Aber Pascin blieb ruhig. Zum ersten Mal innerhalb der letzten Stunde drehte er sich um, so daß Darbon in seine Augen blicken konnte. Was er darin sah, gefiel ihm nicht.
»Ich weiß es nicht«, sagte Pascin müde. Mit einer matten Bewegung hob er seine Tasse und schüttete den mittlerweile kalt gewordenen Kaffee in einem einzigen Zug hinunter.
Darbon sah ihn einen Moment lang unentschlossen an. Dann hob er die Hand, um eine neue Kanne zu bestellen.
Der Kellner brachte Valerie ihre zweite Tasse Kaffee, während Curtis sie stolz beobachtete.
»Du siehst phantastisch aus«, wiederholte er bereits zum zweiten Mal, seit sie das Cafe Weber an der Ecke Rue Royale-Boulevard Haussmann betreten hatten.
Sie lächelte, nippte an ihrer Tasse und verbrannte sich mit einem leisen Fluch die Zungenspitze. Curtis wollte aufspringen, doch Valerie bremste ihn mit einer Handbewegung.
»Curtis«, empörte sie sich lachend, »ich bin kein Kind mehr!«
Er setzte an, etwas zu erwidern, als sein Blick plötzlich an ihr vorbei wanderte. Über seine Züge huschte ein Ausdruck unangenehmer Überraschung. »O nein«, flüsterte er.
Valerie sah erst ihn, dann ihre Tasse an, bis sie begriff, daß nicht sie gemeint war. Sie wollte sich umschauen, doch er griff blitzschnell nach ihrer Hand. »Nicht umdrehen«, zischte er. »Vielleicht übersieht er uns.«
Sie beugte sich über den Tisch. »Wer?« fragte sie leise.
Curtis sah sie nicht an. Statt dessen folgte sein Blick von rechts nach links irgend jemandem, der hinter ihrem Rücken durch das Café ging. Dann weiteten sich seine Augen unmerklich, und von einer Sekunde zur anderen zauberte er ein strahlendes Lächeln auf sein Gesicht.
»Lord Cranham«, hörte sie eine Stimme hinter sich.
»Monsieur Stiller«, rief Curtis mit falscher Freude.
Zumindest als Schauspieler ist er mir unterlegen, dachte Valerie bissig.
Neben ihr trat ein Mann an den Tisch, mit heller Kleidung und rötlich-blondem Haar. Seine schwarzen Augen stachen wie Revolvermündungen aus einer Gesichtshaut, die fast so weiß war wie das Tischtuch. Als sie zu ihm aufsah, wurde sein Grinsen noch breiter, er verbeugte sich, und sie nahm zögernd seinen Handkuß entgegen.
»Mademoiselle«, hauchte er galant und sah sie aus seinen dunklen Augen an. Valerie kannte diesen Blick; er traf sie an jedem Abend aus Dutzenden von Gesichtern, wenn sie während des Finales ihr Kleid für das Blutbad fallen ließ.
Er
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