Giebelschatten
großen Schein in die Hand und lächelte freundlich.
Männer, dachte Valerie amüsiert. Wie kleine Kinder.
Die Kutsche brachte sie bis zu einer kleinen Kreuzung, mitten im Gassengewirr des Montmartre. Hier stiegen sie aus, und Stiller führte sie durch einen schmalen Gang zwischen zwei Häusern auf einen Hinterhof, auf dem Bedienstete einen sicheren Weg durch Schnee und Eis gegraben hatten. An seinem Ende ragte eine mehrstöckige Fassade in die Höhe, kunstvoll und zweifellos teuer verziert. Über der Haustür standen drei Worte in lateinischer Sprache.
ODI PROFANUM VULGUS, las Valerie. Ich hasse den gemeinen Pöbel.
»Ein Zitat aus den Oden des Horaz«, erklärte Stiller, als er ihren Blick bemerkte. Valerie fügte dem negativen Bild, das sie sich vom Charakter Stillers gemacht hatte, ein weiteres Puzzlestück hinzu. Der Mann war ein arrogantes, selbstzufriedenes Stück Dreck, ein abscheulicher, dekadenter Nichtstuer.
Ein Diener im schwarzen Livré öffnete, verbeugte sich tief und verschwand dann mit hastigen Schritten hinter einer Tür der Eingangshalle. Stiller führte die beiden Besucher eine prächtige Freitreppe hinauf, über einen Balkon, den man der Halle rundum wie eine Krone aufgesetzt hatte, und schließlich durch eine schwere Eichentür in seine Bibliothek.
Allein der Anblick der unzähligen Bücher in den Regalen beeindruckte Valerie mehr, als sie zugeben wollte. Stiller mochte ein verweichlichter Neureicher sein, doch in seiner Sammelleidenschaft war er konsequent. Nicht zu konsequent, hoffte sie, und drängte sich enger an Curtis.
»Herzlich willkommen in meinem Reich«, rief ihr Gastgeber aus. »Schauen Sie sich nur um und üben Sie keine Zurückhaltung. Sie dürfen gerne alles berühren.«
Valerie und Curtis gingen an den meterhohen Regalen entlang, nahmen hier und da einen Band heraus und blätterten darin, eher höflich als wirklich interessiert. Schnell bemerkte Valerie, daß all diese Bücher immer um die gleichen Themen kreisten, und es waren zahlreiche Bände dabei, deren Seiten mit orientalischen oder fernöstlichen Schriftzeichen bedruckt, teils sogar handbeschrieben waren. Stiller hatte hier eine Schatzkammer der Erotik eingerichtet, ein Refugium seiner Phantasien und Träume, schwankend zwischen Harmonie und Agonie. Valerie fühlte sich unsicher und verwirrt. Sie konnte Stiller regelrecht vor sich sehen, wie er hier saß, in langen, einsamen Nächten mit seinen weißen Fingern die Seiten glattstrich und sich begierig in einer Welt endloser Höhepunkte verlor, wie er sich suhlte in unvorstellbaren Sphären des Fleisches und der Lust. Ein Barbar der Gedanken.
»Haben Sie keine Angst vor Dieben, in einem Viertel wie diesem?« erkundigte sich Curtis.
»Oh doch, natürlich. Aber diese Stadt, diese Straßen, sind ein wahrer Nährboden für meine Interessen. Jemand hat den Montmartre einmal als Klitoris von Paris bezeichnet. Ich persönlich halte Venushügel für passender.« Er lachte, und plötzlich spürte Valerie, daß sie diesen Mann unterschätzt hatte. Sie hatte ihn nicht gemocht, seit sie ihn im Cafe Weber getroffen hatte, doch nun begann sie ihn und all seine Bücher, seine Kunst, wie er es beharrlich nannte, zu fürchten.
»Curtis«, sagte sie leise. »Ich möchte gehen. Sofort.«
Stiller fuhr herum, als hätte er ihre Worte gehört. »Lassen Sie mich Ihnen meine Galerie zeigen.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, öffnete er eine Seitentür und verschwand im Nebenzimmer.
»Sofort!« wiederholte Valerie, und Curtis zweifelnder Blick brachte sie nur noch mehr auf. »Der Kerl ist verrückt, merkst du das nicht?«
Curtis nickte, aber die Bewegung kam zögernd, unsicher. Sie spürte, daß es ihn hin und her riß zwischen ihrem Wunsch zu gehen und dem, was sich dort im Nebenzimmer befinden mochte: Stillers Wunschträume in Öl und Aquarell.
»Kommen Sie?« hörte sie seine Stimme durch die geöffnete Tür.
Valerie zog mit Nachdruck an Curtis’ Ärmel. »Entweder, du kommst mit mir, oder ich gehe allein.«
Er löste ihre Finger vom Stoff seines Jacketts, ging zur Tür hinüber und blickte in den Raum, ohne ihn zu betreten. »Wir möchten gehen, Monsieur Stiller«, sagte er dann. Valerie atmete auf.
»Was?« Stiller trat an ihm vorbei in die Bibliothek, sah erst ihn, dann Valerie an und fuhr sich mit einer fahrigen Handbewegung durchs Haar. »Aber die Bilder…«, begann er, verstummte aber, als er den Ausdruck auf Valeries Gesicht sah. Auf einmal schien er in sich
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