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Giebelschatten

Titel: Giebelschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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los, quer über den Hof, in die klaffende Schneise zwischen den Mauern und durch sie hindurch. Ihr Knie und der Fuß schmerzten höllisch, und bei jedem Schritt wurde das Pulsieren in den Wunden quälender. Aber noch konnte sie laufen, hinaus auf die Straße, die Gasse entlang, um eine Ecke, eine zweite und noch eine, rannte und rannte…
    …und prallte gegen etwas, das plötzlich vor ihr in der Dunkelheit stand.
    Sie heulte auf, als sie einen Mann erkannt, griff nach seiner Kleidung und riß daran. »Helfen Sie mir, bitte, helfen Sie mir!«
    Der Mann sagte etwas, das sie nicht verstand.
    »Bitte«, rief sie, »helfen Sie mir doch.«
    Er hielt sie an der Schulter fest und strich mit der anderen Hand die Tränen von ihrer Wange.
    »Bitte!« flehte sie verzweifelt.
    In den Schatten sah sie sein Lächeln.
    »Wenn man das Böse aus dem Schönen entfernt, erhält man Vollendung«, flüsterte er sanft.
     
    Curtis hielt sein Versprechen: Gegen kurz vor vier in der Nacht klopfte er leise an das Fenster von Valeries Erdgeschoßwohnung. Atemlos ließ sie ihn ein. Es hatte erneut zu schneien begonnen. Kleine weiße Flocken schimmerten in seinem Haar und auf seiner Kleidung.
    »Du warst wach«, stellte er fest und küßte zärtlich ihre Stirn.
    Valerie lächelte geheimnisvoll, stellte sich wortlos auf die Zehenspitzen und schloß seine Lippen mit einer sanften Berührung ihrer Zunge. Für einen Moment drohte sein Atem sich zu überschlagen, dann nahm er sie in seine Arme und streichelte durch das Nachthemd hindurch ihre warme Haut. Nach einer Weile löste er sich behutsam von ihr, fuhr mit den Fingern durch ihr langes Haar und ließ sein Gesicht eng an ihrem Körper hinabgleiten, ging in die Knie und küßte ihre nackten Füße auf dem kalten Steinboden.
    Sie spürte, wie sich ihre Schenkel mit einer Gänsehaut überzogen. Curtis sah im Halbdunkel zu ihr auf, und für einen kurzen Augenblick fragte sie sich, ob ihr seine demütige Haltung gefiel. Die Antwort war erschreckend und großartig zugleich: Sie genoß es.
    »Spiel deine Rolle«, flüsterte er tonlos.
    Sie lächelte und kniff fragend die Augen zusammen.
    »Spiel deine Rolle«, wiederholte er.
    Valerie begriff. Wortlos nahm sie die herrische Haltung der Gräfin ein, straffte ihren Körper, hob ihr Kinn um eine Winzigkeit und ließ ein grausames Lächeln um ihre Lippen spielen. Mit einer Geste der Großmut streichelte sie sein Haar und preßte seinen Kopf dabei sanft, aber entschieden nach unten.
    Curtis sah auf, lächelte. Dann beugte er sich noch tiefer hinab, berührte zärtlich mit den Lippen ihre Knöchel, die Unterschenkel, ihre Knie. Der weiße Stoff ihres Nachthemdes raffte sich über seinem Haar zusammen und wanderte langsam an ihren Beinen nach oben.
    Von draußen warf der ruhige Schein einer Gaslaterne die flackernden Schatten der Schneeflocken über ihre Körper, zerfasernde gefallene Engeln, die schwebend an ihnen herab aus dem Himmel in eine ungewisse Tiefe glitten.

2.
     
    »Ihr wirklicher Name ist Margot Sorel, aber hier kannten sie alle nur als Josette.«
    Darbon warf einen letzten Blick auf das oberste Blatt seiner Notizen, legte für eine Sekunde die Stirn in Falten und zog es dann von dem schmalen Papierstapel herunter. Der nächste Zettel war übersät mit getrockneten Kaffeeflecken, und er blickte auf, um Pascins unvermeidliche Rüge mit einem nervösen Lächeln abzublocken.
    Aber Pascin sah ihn nicht einmal an. Der Inspektor starrte nachdenklich aus dem Fenster des kleinen Cafés, in dem sie seit viereinhalb Stunden saßen und literweise Tee und Kaffee in sich hineinschütteten, seit der Besitzer am Morgen um sechs die Tür aufgeschlossen hatte. Zwischenzeitlich war Darbon für einige Zeit durch die Straßen gelaufen, um mögliche Zeugen zu befragen, und er hatte dem Zuhälter der Sorel einen unergiebigen Kurzbesuch abgestattet.
    Zwei ihrer Kolleginnen hatten Josette gegen vier Uhr ausgeblutet in einer Schneewehe gefunden. Magen und Unterleib wiesen dieselben entsetzlichen Verwüstungen auf wie das Opfer vom Vortag, und weder für Darbon noch für Pascin bestand ein Zweifel an der Identität des Mörders. Der Täter hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Leiche der jungen Frau zu verstecken. Sie hatte noch dort gelegen, wo er sie abgeschlachtet hatte, überzogen von einer dünnen Schicht frisch gefallenen Schnees, in dem sich das Blut zu einer gewaltigen Lache in Form eines Schmetterlings ausgebreitet hatte. Noch immer versuchten

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