Giebelschatten
Josette eine halbrunde Freitreppe, deren Stufen im ersten Stock auf eine Balustrade mit verziertem Geländer führten.
»Willkommen«, sagte der Mann, nahm den Zylinder ab und befreite sich von seinem Schal. Darunter kam ein helles, pigmentloses Gesicht zum Vorschein, bartlos, fast wie das eines Albinos, aber ohne dessen rote Augen. Statt dessen waren die seinen braun, fast schwarz, so daß Pupille und Iris zu einer einzigen, dunklen Scheibe verschmolzen. Dennoch wirkten sie auf Josette nicht unangenehm, nein, fast glaubte sie, in den Zügen des Mannes eine Art freundliches Wohlwollen zu erkennen. Vielleicht würde sie ja in dieser Nacht ein kleines Vermögen verdienen.
»Kommen Sie, ich nehme Ihnen Ihren Mantel ab.« Josette ließ es überrascht geschehen, dann folgte sie ihm die Treppe hinauf, wo er sie an dem Geländer entlang in ein riesiges Zimmer führte, dessen Wände mit Tausenden von Buchrücken bedeckt waren.
Erstaunt sah sie sich um. »Sind das alles Ihre?«
Die Frage schien ihn zu amüsieren. »Ich denke schon«, erwiderte er mit einem Lächeln, das seine weiße Haut wellte wie eine Schneewehe. »Ich bin Sammler, wissen Sie. Sammler von höchst exquisiter Literatur.«
An einer Wand gab es eine Lücke zwischen den Bücherregalen. Dort hing ein riesiges Gemälde, auf dem sich mehrere junge Mädchen nackt auf einem Diwan räkelten. Im Hintergrund wachte ein Orientale mit Turban, schwarzem Bart und einer Peitsche. Unter dem Bild stand eine breite Couch.
»Ich schätze die Gemälde von Chasseriau sehr«, sagte er, als er ihren Blick bemerkte. »Im Nebenzimmer habe ich eine kleine Galerie mit Werken dieser Art. Von Gérome, Ingres, Delacroix, Gervex und anderen.« Er deutete dabei auf eine Tür zu seiner Rechten. »Verraten Sie mir, wie Sie heißen?«
»Josette.« Sie ging zu den Regalen hinüber. »Haben Sie die alle gelesen?« Vorsichtig betrachtete sie die Aufschriften auf den Buchrücken.
»Natürlich«, antwortete er, während er einige Kerzen entzündete, die das Licht im Raum verstärkten. Er griff nach einem Buch und blätterte mit einem geheimnisvollen Lächeln darin. »L’Ecole des Biches, ein großartiges Werk. Und dort drüben stehen zahlreiche Bände von De Sade.«
Er legte das Buch beiseite, durchquerte den Raum und zog aus einem Fach einen Stapel mit losen, handbeschriebenen Blättern. »Das Originalmanuskript von Mirbeaus Le Jardin des Supplices. Eine kleine Kostbarkeit.«
»Monsieur, erlauben Sie mir eine Frage?«
»Aber natürlich, mein Kind.«
Er hielt sie für dumm, das spürte sie. Egal. Sie würde ihm heute Nacht eine reife Leistung bieten, die er so schnell nicht vergessen sollte. Kunden wie diese galt es zufriedenzustellen, nach allen Regeln ihrer Kunst. Zumindest darin war sie eine Meisterin.
»Verzeihen Sie, Monsieur, aber Sie scheinen mir kaum in ein Viertel wie dieses zu passen. Sie sind reich, gelehrt…«
Bei ihrem letzten Wort lachte er. »Und Sie möchten wissen, warum ich ausgerechnet hier lebe, in einem großen Haus, aber umgeben von Gassen, in denen der Dreck meterhoch liegt?«
Das war es, was sie meinte. Was trieb einen Mann seines Standes zum Montmartre, wo Lust und Laster regierten wie anderswo die Polizei?
»Ich bin Schriftsteller. Ich brauche die Schlichtheit dieser Straßen. Und Quellen der Inspiration wie Sie, Mademoiselle.« Er trat an einen schmalen Arbeitstisch, öffnete eine Schublade und hielt plötzlich einen hohen Stoß von Blättern in der Hand. »Mein Werk«, sagte er und ein Ausdruck des Stolzes legte sich auf seine Züge.
»Wie heißt es?« fragte Josette artig.
»Es hat noch keinen Titel.«
»Und wovon handelt es?«
»Nun…« Er holte mit einer weiten Handbewegung aus und lachte. »Es ist eine Geschichte über das Fleisch und seine Sünden. Vielleicht gefällt es Ihnen. Ich werde Ihnen später daraus vorlesen, falls Sie es wünschen.«
»Natürlich«, beeilte sie sich zu sagen. Später, dachte sie, wenn ich mein Geld habe. »Werden Sie es drucken lassen?«
»Mag sein.« Plötzlich glitzerten seine Augen. »Vielleicht wird es auch nur dieses eine Exemplar geben. Ein Einzelstück für Liebhaber.«
Josette nickte. »Wie ungewöhnlich.«
»Nicht wahr? Ich werde es binden lassen.« Das Leuchten in seinen Augen wurde zu einem Lodern, zu irgend etwas anderem, das vor einer Minute noch nicht dagewesen war. Auf einmal spürte Josette ein Unbehagen in sich aufsteigen, etwas wie der düstere Nachhall der Dinge, die in diesen endlosen Reihen
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