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Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)

Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition)

Titel: Gier (Ein Paul-Kalkbrenner-Thriller) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Krist
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Brodbeck ging einen schmalen Korridor entlang voran ins Wohnzimmer. Dort blieb sie stehen. Ihre Augen waren rot, weil sie in den letzten Tagen zu viele Tränen vergossen hatte. Einige Fältchen hatten sich um ihre Lider herum gebildet. Das blonde Haar war kürzer als früher. Sie trug es jetzt zu einem strengen Zopf gebunden. Ansonsten hatte sie sich kaum verändert. »Wie lange ist das her?«
    »Ich weiß nicht«, antwortete er. Es kam ihm nicht richtig vor, darüber zu reden. Nicht jetzt. Aber sie hatte ihn danach gefragt, also schätzte er. »20 Jahre?«
    »Länger.«
    Er selbst war Mitte 40. Jessy war 21. Vor 22 Jahren hatte er Ellen geheiratet. »Stimmt.«
    Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Es wirkte unecht und verschwand so schnell, wie es gekommen war. »Setz dich doch.«
    Kalkbrenner nahm auf der Couch Platz. Das Schlucken fiel ihm schwer. Er musste an ein Stück von Eugène Ionesco denken, das er vor einiger Zeit im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt gesehen hatte. Absurdes Theater, in dem nicht nur der Aufbau klassischer Stücke verworfen wurde, sondern auch die Gesetze der Logik keine Gültigkeit mehr hatten. In diesem Moment fühlte er sich in das Stück hineinversetzt.
    »Möchtest du etwas trinken? Einen Kaffee? Selters?«
    Er bemerkte seine trockenen Lippen. »Ein Wasser, gerne.«
    Die Decken waren hoch und mit Stuck verziert. Am Fenster stand ein alter Sekretär, darauf ein Laptop, alt und klobig, schon fast ein Dinosaurier. Ungleich moderner war das pinkfarbene Handy. Daneben lag ein Buch.
Homo Faber
von Max Frisch. Lehrerlektüre. Hinter der Couchgarnitur reihten sich Bücherregale aneinander. Einige der Romane kannte er selbst noch aus der Schule, der Großteil war ihm fremd.
    Die Einrichtung der Wohnung ließ Geschmack erkennen. Sie war weder luxuriös noch auffallend teuer, einem Lehrergehalt durchaus angemessen, wirkte aber trotzdem wie aus einem Guss. Wahrscheinlich hatte Judith die Möbel ausgewählt. Ein Gefühl für Stil hatte sie schon damals besessen.
    Zusammen mit den Getränken brachte sie einen Teller Gebäck. »Eine Kleinigkeit?«
    »Danke, für mich nicht.«
    Sie stellte die Kekse auf dem Tisch vor ihm ab. »Ich muss was essen. Ich muss mich dazu zwingen. Eigentlich habe ich gar keinen Appetit. Oft vergesse ich es einfach …« Ihre Stimme wurde leiser.
    »Wie geht es dir?«
    »Ich kann das immer noch nicht glauben. Ich komme damit nicht zurecht. Ich habe das Gefühl, als würde ich in einem Traum leben, aber in einem Albtraum. In den letzten Tagen verlasse ich die Wohnung und bin mir wenig später nicht mehr sicher: Hab ich den Kühlschrank tatsächlich zugemacht? Den Fernseher ausgeschaltet? Oder die Haustür abgeschlossen?« Sie sah ihn an. Eine Träne rann aus ihrem Augenwinkel. Sie tupfte sich die Wange. »Es ist, als stünde ich neben mir. Als sei das alles nicht mehr mein Leben.«
    Sie schenkte ihm Wasser ein. Sie selbst trank Wein. »Mein Kummertrunk. Nur ab und zu ein bisschen …«
    Er nahm einen Schluck. Nachdem er das Glas abgesetzt hatte, wollte sie wissen: »Wie geht es dir?«
    »Es geht mir gut«, sagte er, und zum ersten Mal seit langer Zeit war diese Antwort mehr als nur eine Phrase. Aber ihr Aufeinandertreffen unter diesen Umständen war nicht der richtige Anlass, um über Dinge zu plaudern, über die man üblicherweise sprach, wenn man seiner Jugendliebe überraschend gegenüberstand.
    »Bist du inzwischen verheiratet?«
    »Ja.«
    »Schön. Hast du Kinder?«
    »Eine Tochter.«
    »Das freut mich. Wie heißt sie?«
    »Jessica. Aber eigentlich nennen wir sie nur Jessy.«
    Judiths Kopf sank schwer auf ihre Brust. Leise hörte er sie sagen: »Wir wollten auch Kinder. Wir haben es versucht. Aber irgendwie hat es nicht geklappt.«
    Sie holte tief Luft und schaute ihn wieder an. »Du sagtest, du wolltest dich mit mir unterhalten. Worüber?«
    »Ich habe den Fall übernommen, und es gibt da einige Fragen, die …«
    »Fragen? Ich verstehe nicht.« Sie sah ihn verwundert an. »Ich dachte, alles wäre klar? Die beiden Jugendlichen, die …« Ihre Stimme versagte. Die Lippen zitterten.
    Er wartete, bis sie sich beruhigt hatte. »Nein«, sagte er schließlich. »Leider ist der Fall alles andere als klar.«
    Sie griff nach einer Packung Papiertaschentücher, die auf dem Beistelltisch lag. Sie schnäuzte sich kurz. »Aber was hat das mit mir zu tun?«
    »Nicht mit dir. Mit deinem Mann. Ich würde gerne mehr über ihn erfahren.«
    »Was willst du denn hören?«
    »Hat er

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