Gier, Kerstin
diskret.« Ihre Augen funkelten immer noch zornig, als sie von Gideon
zu mir und wieder zurückschaute, doch mit einem Mal setzte sie sich in Bewegung
und wogte unter unseren verblüfften Blicken von einer Stange zur anderen. Kurze
Zeit später kehrte sie zurück, den Arm voller Kleider und merkwürdiger Kopfbedeckungen.
»Bien«, sagte sie
mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Das soll euch eine Lehre
sein, Madame Rossini zu hintergehen.« Sie hielt uns die Kleider hin und
plötzlich verzog sich ihr Gesicht und es war, als würde die Sonne zwischen
dunklen Regenwolken hervorblitzen. »Und wenn ich den kleinen 'eimlichtuer
diesmal dabei erwische, dass er seinen 'ut nicht trägt«, sie drohte Gideon mit
dem Finger, »dann wird Madame Rossini Ihrem Onkel von Ihrem kleinen Ausflug
erzählen müssen!«
Ich lachte
erleichtert auf und umarmte sie stürmisch. »Ach, Sie sind einfach die
Allerbeste, Madame Rossini.«
Caroline
und Nick saßen im Nähzimmer auf dem Sofa und schauten überrascht, als Gideon
und ich zur Tür hineingeschlichen kamen. Doch während sich über Carolines
Gesicht ein strahlendes Lächeln ausbreitete, schien Nick eher verlegen zu
sein.
»Ich
dachte, ihr seid auf dieser Party!«, sagte mein kleiner Bruder. Ich wusste
nicht genau, was ihm peinlicher war: dass er sich zusammen mit seiner kleinen
Schwester einen Kinderfilm ansah oder dass sie alle beide schon Schlafanzüge
trugen, und zwar die himmelblauen, die Tante Maddy ihnen zu Weihnachten
geschenkt hatte. Das Besondere daran waren die Kapuzen mit Häschenohren. Ich
fand die ja - genau wie Tante Maddy - allerliebst, aber wenn man zwölf Jahre
alt ist, sieht man das vielleicht anders. Vor allem, wenn man unerwartet
Besuch bekommt und der Freund der großen Schwester eine megacoole Lederjacke
trägt.
»Charlotte
ist schon vor einer halben Stunde los«, erklärte Nick. »Tante Glenda ist um sie
herumgesprungen wie ein Huhn, das gerade ein Ei gelegt hat. Iiiih, nein, hör
mit der Küsserei auf, Gwenny, du bist genau wie Mum vorhin. Warum seid ihr
überhaupt noch hier?«
»Wir gehen
später zu der Party«, sagte Gideon und ließ sich neben ihn auf das Sofa fallen.
»Klaro«,
sagte Xemerius, der träge auf einem Stapel von gesammelten Ausgaben von Homes & Gardens lag. »Die
richtig coolen Typen kommen immer zuletzt.«
Caroline himmelte
Gideon mit großen Kulleraugen an. »Kennst du schon Margret?« Sie streckte ihm
ihr Häkelschwein entgegen, das sie auf dem Schoß gehalten hatte. »Du darfst
sie ruhig streicheln.«
Gideon
streichelte Margret gehorsam über den Rücken. »Schön weich.« Er schaute
gespannt in den Bildschirm. »Oh, seid ihr schon da, wo die Farbkanone
explodiert? Das ist meine Lieblingsstelle.«
Nick sah
ihn misstrauisch von der Seite an. »Du kennst Imker Bell?«
»Ich finde
ihre Erfindungen echt cool«, behauptete Gideon.
»Ich
auch«, sagte Xemerius. »Nur die Frisur ist ein bisschen ... scheiße.«
Caroline
seufzte verliebt. »Du bist so nett! Kommst du jetzt öfter?«
»Ich
fürchte, ja«, sagte Xemerius.
»Ich
hoffe, ja«, sagte Gideon und unsere Blicke streiften sich kurz. Ich konnte
einen verliebten Seufzer ebenfalls nicht unterdrücken. Nach unserem ergiebigen
Besuch im Kostümfundus der Wächter hatten wir noch einen kleinen Abstecher in
Dr. Whites Behandlungszimmer gemacht, und während Gideon sich dort mit
diversen Utensilien eindeckte, war mir plötzlich ein Gedanke gekommen.
»Wo wir
schon mal beim Klauen sind - kannst du vielleicht auch einen Impfstoff gegen
Pocken mitnehmen?«
»Keine
Sorge - du bist gegen so ziemlich alle Krankheiten geimpft worden, die dir auf
den Zeitreisen über den Weg laufen könnten«, hatte Gideon erwidert. »Natürlich
auch gegen Variola-Viren.«
»Es ist
nicht für mich - es ist für einen Freund«, hatte ich gesagt. »Bitte! Ich
erkläre es dir später.«
Gideon
hatte zwar eine Augenbraue nach oben gezogen, aber kommentarlos Dr. Whites
Medikamentenschrank aufgeschlossen und nach kurzem Suchen eine rote Schachtel
eingesteckt.
Dafür,
dass er keine Fragen gestellt hatte, liebte ich ihn umso mehr.
»Du siehst
aus, als würde dir gleich der Sabber aus dem Mund laufen«, holte mich Xemerius
in die Realität zurück.
Ich
angelte den Schlüssel für die Tür zum Dach aus der Zuckerdose im Schrank. »Wie
lange ist Mum schon in der Badewanne?«, erkundigte ich mich bei Nick und
Caroline.
»Eine
Viertelstunde, höchstens.« Nick sah jetzt viel entspannter aus. »Sie
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