Gier, Kerstin
verstauen. »Es ist doch alles gut gegangen. Paul
hatte Glück im Unglück.«
»Nur weil
es noch schlimmer hätte enden können, heißt es nicht, dass alles gut gegangen
ist!«, rief Lucy. »Nichts ist gut gegangen, gar nichts!« Ihre Augen füllten
sich mit Tränen und Paul brach bei diesem Anblick beinahe das Herz. »Wir sind
jetzt seit drei Monaten hier und haben nichts von dem erreicht, was wir geplant
hatten, im Gegenteil: Wir haben alles nur noch schlimmer gemacht! Endlich
hatten wir diese verdammten Papiere in den Händen und da gibt Paul sie einfach
weg!«
»Das war
vielleicht ein bisschen voreilig.« Er ließ den Kopf auf das Kissen sinken.
»Aber in diesem Augenblick hatte ich einfach das Gefühl, das Richtige zu tun.«
Und zwar deshalb, weil er sich in ebendiesem Augenblick dem Tod verdammt nahe
gefühlt hatte. Viel hätte nicht mehr gefehlt und Lord Alastairs Degenklinge
hätte ihm den Rest gegeben. Das allerdings durfte er Lucy auf keinen Fall sagen.
»Wenn wir Gideon auf unserer Seite hätten, gäbe es noch eine Chance. Sobald er
die Papiere gelesen hat, wird er begreifen, worum es uns geht.« Hoffentlich.
»Aber wir
wissen selber nicht genau, was in den Papieren steht! Vielleicht ist es
verschlüsselt oder... ach, und du weißt ja nicht mal, was du Gideon da überhaupt gegeben
hast«, sagte Lucy. »Lord Alastair könnte dir alles Mögliche untergejubelt
haben: alte Rechnungen, Liebesbriefe, leere Blätter...«
Dieser
Gedanke war Paul auch längst gekommen, aber was geschehen war, war nun einmal
geschehen. »Manchmal muss man ein bisschen Vertrauen in die Dinge haben«,
murmelte er und wünschte, diese Aussage würde auf ihn zutreffen. Noch mehr als
der Gedanke, Gideon möglicherweise wertlose Papiere überreicht zu haben,
folterte ihn die Vorstellung, der Junge könne mit den Unterlagen direkt zum
Grafen von Saint Germain gegangen sein. Das würde bedeuten, er hätte ihren
einzigen Trumpf aus der Hand gegeben. Aber Gideon hatte gesagt, dass er
Gwendolyn liebte, und die Art und Weise, wie er es gesagt hatte, war irgendwie
... überzeugend gewesen.
»Er hat es
mir versprochen«, wollte Paul sagen, aber es kam nur als unhörbares Flüstern
heraus. Außerdem wäre es ohnehin eine Lüge gewesen. Er hatte Gideons Antwort
gar nicht mehr mitbekommen.
»Es war
eine dumme Idee, mit der florentinischen Allianz zusammenarbeiten zu wollen«,
hörte er Lucy sagen. Seine Augen waren ihm zugefallen. Was immer Dr. Harrison
ihm verabreicht hatte, es wirkte rasend schnell.
»Ja, ich
weiß, ich weiß«, fuhr Lucy fort. »Es war meine dumme
Idee. Wir hätten die Sache selber in die Hand nehmen müssen.«
»Ihr seid
aber nun mal keine Mörder, Kind«, sagte Lady Tilney.
»Macht es
moralisch einen Unterschied, ob man jemanden selber ermordet oder nur den
Auftrag dazu erteilt?« Lucy seufzte schwer, und obwohl Lady Tilney ihr
energisch widersprach (»Mädchen, nun sag nicht so etwas! Ihr habt doch keinen
Mordauftrag erteilt, ihr habt lediglich ein paar Informationen
weitergegeben!«), klang sie plötzlich untröstlich: »Wir haben wirklich alles
falsch gemacht, was man nur falsch machen kann, Paul. In drei Monaten haben wir
nur jede Menge Zeit und Lady Margrets Geld verschwendet und darüber hinaus viel
zu viele Menschen mit in die Sache hineingezogen.«
»Es ist
Lord Tilneys Geld«, korrigierte sie Lady Tilney. »Du würdest staunen, wenn du
wüsstest, wofür er sein Geld sonst so alles verschwendet. Pferderennen und
Tänzerinnen sind da noch das Harmloseste - das bisschen, das ich für unsere
Sache abzweige, bemerkt er gar nicht. Und wenn doch, dann dürfte er Gentleman
genug sein, kein Wort darüber zu verlieren.«
»Und ich
persönlich fände es sehr schade, wenn man mich nicht in diese Sache mit
hineingezogen hätte«, versicherte Dr. Harrison und schmunzelte. »Ich hatte
gerade angefangen, mein Leben ein bisschen langweilig zu finden. Schließlich
hat man nicht alle Tage mit Zeitreisenden zu tun, die aus der Zukunft kommen
und alles besser wissen. Und unter uns: Der Führungsstil der Herren de Villiers
und Pinkerton-Smythe zwingt einen ja geradezu zur geheimen Rebellion.«
»Allerdings«,
sagte Lady Tilney. »Dieser selbstgefällige Jonathan hat seiner Frau gedroht,
sie im Haus einzuschließen, sollte sie weiter mit den Suffragetten
sympathisieren.« Sie ahmte eine mürrische Männerstimme nach: »Was kommt
als Nächstes? Das Wahlrecht für Hunde?«
»Tja,
deswegen haben Sie ihm ja auch mit einer Ohrfeige
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