Gier, Kerstin
herunter.
»Ach, setz
dich einfach aufs Kleid«, sagte ich, ließ meinen Kopf nach hinten fallen und
schloss die Augen.
Leslie
sprang auf. »Kommt gar nicht infrage! Am Ende geht noch was kaputt und dann
dürfen wir nie mehr was bei Madame Rossini ausleihen. Komm, hoch mit dir, ich
schnüre dich aus diesem Miederteil.« Sie zog mich zurück auf die Beine und
begann, mich aus dem Sisi-Kleid zu schälen. »Und du guckst solange woandershin,
Raphael.«
Raphael
warf sich der Länge nach auf das Sofa und starrte an die Decke. »So recht?«
Als ich
wieder Jeans und T-Shirt trug und ein paar Schlucke Wasser getrunken hatte,
ging es mir ein bisschen besser.
»Wie war
es denn, deine ... also ... Lucy und Paul zu treffen?«, fragte Leslie leise,
als wir wieder auf dem Sofa saßen.
Raphael
sah mich mitleidig von der Seite an. »Krass, wenn die eigenen Eltern im Grunde
genauso alt sind wie man selber.«
Ich
nickte. »Es war ziemlich ... merkwürdig und ... aufwühlend.« Und dann erzählte
ich ihnen alles, angefangen von der Begrüßung durch den Butler bis hin zu
unserem Geständnis, den Blutkreis mit dem gestohlenen Chronografen bereits
geschlossen zu haben. »Dass wir im Besitz des Steins der Weisen sind - oder dem Glitzersalz, wie Xemerius es nennt -, hat ihnen
wirklich die Schuhe ausgezogen. Sie haben sich schrecklich aufgeregt und Lucy
redet noch mehr als ich, wenn sie aufgeregt ist, kaum zu fassen, oder? Sie
hörten erst auf, uns mit Vorwürfen zu überhäufen, als ich ihnen mitteilte,
dass ich über unsere ... äh Verwandtschaftsverhältnisse Bescheid wüsste.«
Leslie
riss ihre Augen weit auf. »Und?«
»Da waren
sie erst mal still. Bis wir einen Moment später alle wieder in Tränen
ausgebrochen sind«, sagte ich und rieb mir müde über die Augen. »Ich glaube,
mit dem, was ich mir in den letzten Tagen so zusammengeweint habe, könnte man
ein afrikanisches Feld während der Trockenzeit versorgen.«
»Ach
Gwenny.« Leslie streichelte hilflos über meinen Arm.
Ich
versuchte ein Grinsen. »Ja, und dann haben wir ihnen noch die frohe Botschaft
mitgeteilt, dass der Graf mich gar nicht umbringen kann und auch
sonst niemand, weil ich nämlich unsterblich bin. Das wollten sie natürlich
nicht glauben, aber weil die Zeit schon ziemlich knapp war, konnten wir es
ihnen auch nicht beweisen, indem ich mich mal schnell von Millhouse erwürgen
ließ oder so. Wir mussten sie also mit offenen Mündern zurücklassen und rennen,
um noch rechtzeitig für unseren Rücksprung in der Kirche zu sein.«
»Und wie
geht es jetzt weiter?«
»Morgen
früh werden wir sie wieder besuchen und dann will Gideon ihnen einen genialen
Plan unterbreiten«, sagte ich. »Dummerweise muss der ihm heute Nacht noch
einfallen. Und wenn er nur halb so erschöpft ist wie ich, wird er keinen klaren
Gedanken fassen können.«
»Na, aber
dafür gibt es doch Kaffee. Und mich: die geniale Leslie Hay.« Leslie schenkte
mir ein aufmunterndes Lächeln. Dann seufzte sie. »Aber du hast recht, ganz
unkompliziert ist es wirklich nicht. Es ist zwar toll, dass ihr den
Chronografen habt, um eigene Zeitreisen zu unternehmen, aber unbegrenzt könnt
ihr den schließlich nicht benutzen. Vor allem nicht, wenn man bedenkt, dass ihr
morgen schon wieder zum Grafen müsst und damit nur noch zwei Stunden oder
weniger von eurem Elapsierkontingent zur Verfügung stehen.«
»Häh?«,
machte ich.
Leslie
seufzte. »Hast du nicht Anna Karenina gelesen?
Man kann nicht mehr als fünfeinhalb Stunden täglich elapsieren, sonst hat es
Nebenwirkungen.« Leslie tat so, als würde sie Raphaels bewundernden Blick
nicht bemerken. »Und ich weiß nicht, wie ich es finden soll, dass ihr dieses
Pulverzeugs besitzt. Es ist... gefährlich. Ich hoffe, ihr habt es wenigstens
so versteckt, dass niemand es finden kann.«
Soviel ich
wusste, war das Fläschchen immer noch in Gideons Lederjacke. Aber das sagte
ich Leslie nicht. »Paul hat mindestens zwanzigmal verlangt, dass wir das Zeug
vernichten sollten.«
»Der Mann
ist nicht blöd!«
»Nein!«
Ich schüttelte den Kopf. »Gideon meint, es könnte unser Trumpf im Ärmel sein.«
»Krass«,
sagte Raphael. »Man könnte es ja mal scherzhalber bei Ebay einstellen
und sehen, wer alles so mitsteigert. Unsterblichkeits-Pulver zur einmaligen
Einnahme. Mindestgebot ein Pfund.«
»Außer dem
Grafen kenne ich niemanden, der unsterblich werden möchte«, sagte ich ein wenig
bitter. »Es muss doch furchtbar sein, am Leben zu bleiben, wenn alle um
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