Gier, Kerstin
»Für immer« besteht aus vielen
»jetzt«.
(Emily Dickinson)
14
»U nd wieder ein Grund mehr, sich von Alkohol fernzuhalten«,
stöhnte Leslie. »Man kann es drehen und wenden, wie man will: Am Ende steht man
immer richtig doof da, wenn man sich betrunken danebenbenommen hat. Ich möchte
am Montag in der Schule jedenfalls nicht in Charlottes Haut stecken.«
»Auch
nicht in Cynthias«, sagte ich. Beim Verlassen des Hauses hatten wir das
Geburtstagskind in der Garderobe mit einem Jungen herumknutschen sehen, der
zwei Klassen unter uns war. (Ich hatte unter diesen Umständen darauf verzichtet,
mich von Cynthia zu verabschieden, zumal wir uns ja auch gar nicht begrüßt
hatten.)
»Und
genauso wenig in der Haut des armen Typen, der sich über Mr Dales ulkige
Froschschuhe erbrochen hat«, sagte Raphael.
Wir bogen
in die Chelsea Manor Street ein. »Aber Charlotte hat echt den Vogel
abgeschossen.« Leslie blieb vor einem Schaufenster eines Möbelstoffladens
stehen, aber nicht etwa, um die Auslage zu betrachten, sondern um ihr eigenes
Spiegelbild zu bewundern. »Ich sag's echt ungern, aber sie tat mir ehrlich
leid.«
»Mir
auch«, sagte ich leise. Ich wusste schließlich genau, was für ein Gefühl es
war, in Gideon verliebt zu sein. Und leider wusste ich auch, was für ein
Gefühl es war, sich vor allen Leuten danebenzubenehmen.
»Mit etwas
Glück hat sie morgen das Ganze vergessen.« Raphael schloss die Tür zu einem
roten Backsteinhaus auf. Von dem Haus der Dales in der Flood Street bis hierher
war es nur ein Katzensprung und so hatte es nahegelegen, uns in Gideons
Apartment für die Party umzuziehen.
Vorhin
allerdings war ich so aufgewühlt von meiner Begegnung mit Lucy und Paul im
Jahr 1912 gewesen, dass ich jetzt erst dazu kam, mich genauer umzuschauen.
Eigentlich
war ich immer davon überzeugt gewesen, dass Gideon in einem dieser ultrahippen
Loftapartments wohnte, mit hundert Quadratmetern gähnender Leere und jeder
Menge Chrom und Glas und einem Flachbildschirmfernseher in der Größe eines
Fußballfeldes. Aber ich hatte mich getäuscht. Direkt vom Eingang führte ein
schmaler Flur an einer kleinen Treppe vorbei in ein lichtdurchflutetes
Wohnzimmer, dessen Rückwand ein riesiges Fenster einnahm. Deckenhohe Regale
säumten die Wände, in denen sich Bücher, DVDs und ein paar Ordner in einem
kunterbunten Mix stapelten, und vor der Fensterbank stand ein großes graues
Sofa mit einer Menge Kissen.
Das
Herzstück des Raums jedoch stellte ein offener Flügel dar, dessen Würde
allerdings leicht durch ein Bügelbrett beeinträchtigt wurde, das ganz und gar
unfeierlich dagegenlehnte. Auch der Dreispitz, der achtlos an einer Ecke des
Flügeldeckels hing und den Madame Rossini mit Sicherheit schon händeringend
suchte, passte nicht ganz ins Bild. Aber na ja- vielleicht war das ja Gideons
Vorstellung von Schöner Wohnen.
»Was
möchtet ihr trinken?«, fragte Raphael, ganz der perfekte Gastgeber.
»Was habt
ihr denn?«, fragte Leslie zurück und schaute misstrauisch hinüber in die Küche,
in der sich in der Spüle Geschirr und Teller stapelten, die mit etwas überzogen
waren, was vermutlich einmal Tomatensoße gewesen war. Vielleicht handelte es
sich aber auch um ein medizinisches Experiment für Gideons Studium.
Raphael
öffnete den Kühlschrank. »Öhm. Mal sehen. Hier hätten wir Milch, aber das
Haltbarkeitsdatum ist letzten Mittwoch abgelaufen. Orangensaft ... oh! Kann
der irgendwie fest werden? Es raschelt so komisch in der Tüte. Aber das hier
sieht doch vielversprechend aus, es müsste eine Art Limonade sein, gemischt
mit...«
Ȁh, ich
nehme einfach Wasser, bitte.« Leslie wollte sich auf das riesige graue Sofa
fallen lassen, erinnerte sich aber in letzter Sekunde daran, dass Grace Kellys
Kleid sich für derartige Lümmeleien nicht eignete, und nahm sehr gesittet auf
der Kante Platz. Ich ließ mich mit einem abgrundtiefen Seufzer neben sie
plumpsen.
»Arme
Gwenny.« Sie tätschelte liebevoll meine Wange. »Was für ein Tag! Du bist
bestimmt vollkommen fertig, oder? Tröstet es dich, wenn ich sage, dass man es
dir nicht ansieht?«
Ich zuckte
mit den Schultern. »Ein bisschen.«
Raphael
kam mit Gläsern und einer Flasche Wasser zurück und wischte ein paar
Zeitschriften und Bücher vom Couchtisch, darunter ein Bildband über den Mann
im Rokoko.
»Kannst du
mal ein paar Quadratmeter von den Rüschen zur Seite packen, damit ich auch noch
auf das Sofa passe?« Er grinste auf mich
Weitere Kostenlose Bücher