Gier, Kerstin
und als
Gordon wieder »Ausziehen!« brüllte, begann sie, sich lasziv einen der langen
grünen Handschuhe abzustreifen, und half dabei mit ihren Zähnen nach, Finger
für Finger.
»Das ist
aus einem Film«, sagte Leslie wider Willen beeindruckt. »Ich weiß nur gerade
mal wieder nicht, aus welchem.«
Die Menge
johlte, als Gordon den Handschuh auffing.
»Weiter!«,
brüllten alle und Charlotte wandte sich nun dem anderen Handschuh zu. Dann aber
hielt sie plötzlich inne. Sie hatte Gideon an der Tür entdeckt und ihre Augen
verengten sich. »Ach sieh an, wen wir da haben!«, sagte sie ins Mikro und ihr
Blick glitt suchend über die Köpfe, bis er an mir hängen blieb. »Und mein
Cousinchen ist auch da - natürlich! Hey, Leute, wusstet ihr, dass Gwendolyn in
Wirklichkeit eine Zeitreisende ist? Eigentlich sollte ich das sein,
aber das Schicksal hat es anders bestimmt. Und plötzlich stehe ich da wie eine
dieser doofen Schwestern von Aschenputtel.«
»Weitersingen!«,
riefen ihre Groupies verwirrt.
»Ausziehen!«,
rief Gordon.
Charlotte
legte den Kopf schief und fixierte Gideon mit glühenden Blicken. »But I won
't stop until that boy is mint? Haha, von wegen! So tief werde
ich bestimmt nicht sinken.« Sie streckte ihren Zeigefinger in Gideons Richtung
und rief: »Er kann auch in der Zeit reisen. Und bald schon wird er die
Menschheit von allen Krankheiten heilen.«
»Oh shit«, murmelte Leslie.
»Jemand
muss sie da runterholen«, sagte ich.
»Ja, aber
wie? Sie ist eine Kampfmaschine. Vielleicht können wir einfach einen schweren
Gegenstand nach ihr werfen«, schlug Raphael vor.
Charlottes
Publikum war verunsichert. Irgendwie schien es zu merken, dass Charlottes
Stimmung alles andere als ausgelassen war. Nur Gordon brüllte fröhlich weiter:
»Ausziehen!«
Ich
versuchte, Blickkontakt zu Gideon aufzunehmen, aber er hatte nur Augen für
Charlotte. Langsam bahnte er sich einen Weg zu dem Tisch, auf dem sie stand.
Sie holte
tief Luft und das Mikro trug ihren Seufzer bis in die allerletzte Ecke des
Wintergartens. »Er und ich - wir wissen alles über Geschichte. Wir haben für
unsere gemeinsamen Zeitreisen gelernt. Ihr solltet sehen, wie er Menuett
tanzt. Oder reitet. Oder mit dem Degen ficht. Oder Klavier spielt.«
Gideon
hatte sie fast erreicht.
»Er ist
unheimlich gut in allem, was er tut. Und er kann Liebeserklärungen in acht
Sprachen machen«, sagte Charlotte mit träumerischer Stimme und zum ersten Mal
in meinem ganzen Leben sah ich Tränen in ihre Augen treten. »Nicht dass er mir
jemals eine gemacht hätte - nein! Er hat ja nur Augen für meine dämliche
Cousine.«
Ich biss
mir auf die Lippe. Das klang ganz nach einem gebrochenen Herzen und niemand
auf der Welt konnte sie besser verstehen als ich. Wer hätte gedacht, dass
Charlotte überhaupt ein Herz hatte? Einmal mehr wünschte ich, dass Leslie mit
ihrer Marzipan-Theorie richtig lag. Wobei mein eigenes Herz sich auch gerade
schmerzhaft zusammenkrampfte und ich angestrengt versuchen musste, die Wogen
der Eifersucht zurückzudrängen, die mich zu überschwemmen drohten.
Gideon
streckte die Hand zu Charlotte hinauf. »Zeit, nach Hause zu gehen.«
»Buuuh«,
rief Gordon, sensibel wie ein Mähdrescher, aber alle anderen hielten gespannt
die Luft an.
»Lass
mich«, sagte Charlotte zu Gideon. Sie schwankte ein wenig. »Ich bin noch längst
nicht fertig.«
Mit einem
Satz war Gideon neben ihr auf dem Tisch und hatte ihr das Mikro entwunden. »Die
Vorstellung ist zu Ende«, sagte er. »Komm schon, Charlotte, ich bring dich nach
Hause.«
Charlotte
fauchte ihn an wie eine wütende Katze. »Wenn du mich anrührst, breche ich dir
das Genick. Ich kann Krav Maga, weißt du!«
»Ich auch,
schon vergessen?« Wieder hielt er ihr seine Hand hin. Zögernd griff Charlotte
danach und ließ sich sogar vom Tisch heben, eine müde, betrunkene Elfe, die
sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte.
Gideon
legte ihr einen Arm um die Taille und drehte sich zu uns um. An seiner Miene
war wie so oft nicht zu erkennen, was er dachte. »Ich muss das hier schnell
erledigen. Ihr geht mit Raphael in meine Wohnung«, sagte er knapp. »Wir treffen
uns dann da.«
Für einen
Moment berührten sich unsere Blicke.
»Bis
gleich«, sagte er.
Ich
nickte. »Bis gleich.«
Charlotte
sagte gar nichts mehr.
Und ich
fragte mich, ob Aschenputtel vielleicht auch ein paar klitzekleine
Schuldgefühle gehabt hatte, als sie mit dem Prinzen auf seinem weißen Pferd
davongeritten war.
Das
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