Gier, Kerstin
einen
herum irgendwann sterben müssen. Also, ich möchte das nicht erleben! Bevor ich
ganz allein auf der Welt bin, werde ich mich von einer Klippe stürzen!« Ich
unterdrückte einen weiteren Seufzer, der sich bei diesem Gedanken aufdrängte.
»Meint ihr, dass das mit der Unsterblichkeit bei mir so eine Art Gendefekt sein
könnte? Schließlich hab ich nicht nur eine Zeitreiselinie in der Familie,
sondern gleich zwei.«
»Da könnte
etwas Wahres dran sein«, sagte Leslie. »Mit dir schließt sich der Kreis - im
wahrsten Sinne des Wortes.«
Eine Weile
starrten wir gedankenverloren auf die Wand gegenüber. Dort war mit schwarzen
Buchstaben ein lateinischer Spruch auf den Putz gepinselt.
»Was heißt
das eigentlich?«, fragte Leslie schließlich. »Kühlschrank auffüllen nicht
vergessen?«
»Nein«,
sagte Raphael. »Es ist ein Zitat von Leonardo da Vinci und die de Villiers
haben es sich von ihm geklaut und als ihr Familienmotto ausgegeben.«
»Oh, dann
heißt es bestimmt übersetzt so was wie Wir sind keine Angeber, wir sind wirklich toll. Oder: Wir wissen
alles und haben immer recht!«
Ich
kicherte.
»Binde
deinen Karren an einen Stern«, sagte Raphael. »Das heißt es.« Er
räusperte sich. »Soll ich Stifte und Papier holen? Damit wir besser grübeln
können?« Er grinste verlegen. »Es ist irgendwie krank, wenn ich das jetzt sage,
aber euer Mystery-Spiel macht mir wirklich Spaß.«
Leslie
setzte sich auf. Langsam breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus und
die Sommersprossen auf ihrer Nase begannen zu tanzen. »Geht mir ganz genauso«,
sagte sie. »Ich meine, ich weiß, dass es kein Spiel ist und dass es um Leben
und Tod geht, aber ich hatte noch nie so viel Spaß wie in den letzten Wochen.«
Sie warf mir einen entschuldigenden Blick zu. »Tut mir leid, Gwenny, es ist
einfach megacool, eine unsterbliche Zeitreisende zur Freundin zu haben, ich
glaube, weitaus cooler, als selber eine zu sein.«
Ich konnte
nicht anders, ich musste lachen. »Da hast du allerdings recht. Ich hätte auch
mehr Spaß, wenn wir unsere Rollen tauschen könnten.«
Als
Raphael mit Papier und Buntstiften zurückkam, begann Leslie sofort, Kästchen
und Pfeile zu malen. »Vor allem die Sache mit diesem Verbündeten des Grafen
unter den Wächtern bereitet mir Kopfzerbrechen.« Sie kaute einen Moment an dem
Bleistift. »Wobei auch das auf einer Vermutung beruht, aber egal. Im Grunde
könnte es jeder sein, oder? Der Gesundheitsminister, der komische Doktor, der
freundliche Mr George, Mr Whitman, Falk ... - und der rothaarige Trottel, wie
heißt er noch mal?«
»Marley«,
sagte ich. »Aber ich glaube, der ist nicht der Typ für so was.«
»Aber er
ist ein Nachfahre von Rakoczy. Und es sind immer die, denen man es am
wenigsten zutraut, das weißt du doch!«
»Das
stimmt«, sagte Raphael. »Die Harmlosen sind meistens die Bösewichte. Vor den Stotterern
und Trotteln sollte man sich in Acht nehmen.«
»Dieser
Verbündete des Grafen, nennen wir ihn mal Mr X, könnte der Mörder von Gwennys
Großvater sein.« Leslie kritzelte eifrig auf dem Papier herum. »Und er wäre
vermutlich derjenige, der Gwenny töten sollte, wenn der Graf sein Elixier
erhalten hat.« Sie sah mich liebevoll an. »Seit ich weiß, dass du unsterblich
bist, bin ich ein klitzekleines bisschen weniger besorgt.«
»Unsterblich,
aber nicht unverletzbar«, sagte Gideon. Wir fuhren alle zusammen und starrten
ihn erschrocken an. Unbemerkt hatte er die Wohnung betreten und lehnte nun mit
verschränkten Armen im Türrahmen. Noch immer trug er sein
18.-Jahrhundert-Outfit und wie jedes Mal machte mein Herz bei seinem Anblick
einen schmerzhaften, kleinen Satz.
»Wie
geht's Charlotte?«, erkundigte ich mich und hoffte, dass die Frage genauso
neutral klang, wie ich es beabsichtigt hatte.
Gideon
zuckte müde mit den Schultern. »Ich denke, sie wird morgen früh ein paar
Aspirin schlucken müssen.« Er kam näher. »Was macht ihr da?«
»Pläne.«
Leslie hatte die Zunge in den Mundwinkel geklemmt, während sie den Stift über
das Papier huschen ließ. »Wir dürfen auch die Magie des Raben nicht vergessen«,
sagte sie mehr zu sich selber.
»Gid, was
meinst du, wer der heimliche Verbündete des
Grafen bei den Wächtern sein könnte?« Raphael kaute aufgeregt an seinen
Fingernägeln. »Ich habe ja Onkel Falk im Verdacht. Der war mir schon, als ich
klein war, immer total unheimlich.«
»Ach
Unsinn.« Gideon kam zu mir und drückte mir einen Kuss aufs Haar, dann ließ
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