Gier, Kerstin
unserer Zeit damit nicht mehr
gedient?«
»Eine
kluge, eine philosophische Frage«, erwiderte der Graf lächelnd und ließ ihn
los. »Und ich freue mich, dass du sie stellst. Aber jetzt ist keine Zeit für
derlei Gespräche. Meine komplizierten Pläne werde ich dir gerne unterbreiten,
wenn die Aufgabe gelöst ist. Bis dahin musst du mir einfach vertrauen!«
Beinahe
hätte ich laut aufgelacht. Aber wirklich nur beinahe. Ich versuchte, Gideons
Blick einzufangen, aber obwohl ich sicher war, dass er das merkte, sah er
hartnäckig an mir vorbei. Auf die Uhr, deren Zeiger unbarmherzig vorwärts
rückten.
»Eine
Sache wäre da noch: Lucy und Paul haben einen eigenen Chronografen zur
Verfügung«, sagte Gideon. »Sie könnten versuchen, Euch hier aufzusuchen, heute
oder auch früher ... und das alles verhindern, einschließlich der Übergabe des
Elixiers.«
»Nun - so
viel hast du über die Gesetze der Kontinuität doch schon begriffen, dass du
weißt, dass es ihnen bis jetzt nicht gelungen ist, meine Pläne zu sabotieren,
denn sonst würden wir nicht hier sitzen, nicht wahr?« Der Graf lächelte.
»Und für
die nächsten Stunden, bis das Elixier in meinen Besitz gelangt ist, habe ich
selbstverständlich ganz besondere Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Rakoczy und
seine Männer werden jeden töten, der sich unbefugt in unsere Nähe wagt.«
Gideon
nickte und legte sich eine Hand auf den Magen. »Es ist so weit«, sagte er und
endlich trafen sich unsere Blicke. »Ich werde bald wieder mit dem Elixier
zurück sein.«
»Ich bin
sicher, dass du diese Aufgabe hervorragend meistern wirst, mein Junge«, sagte
der Graf heiter. »Gute Reise. Gwendolyn und ich werden uns die Zeit solange mit
einem Gläschen Portwein vertreiben.«
Ich hakte
meinen Blick in Gideons fest und versuchte, all meine Liebe hineinzulegen, und
dann war er auch schon verschwunden. Ich wäre am liebsten in Tränen
ausgebrochen, aber ich biss weiterhin meine Zähne zusammen und zwang mich, an
Lucy zu denken.
In Lady
Tilneys Salon, bei Sandwiches und Tee, waren wir es wieder und wieder
durchgegangen. Ich wusste, dass wir den Grafen mit seinen eigenen Waffen
schlagen mussten, wenn wir ihn ein für alle Mal besiegen wollten. Und es hatte
ganz einfach geklungen, jedenfalls, wenn Lucy mit ihrer Vermutung richtig lag.
Sie hatte sie in den Raum geworfen, einfach so, und erst hatten wir sie
abgetan, aber dann hatte Gideon als Erster genickt. »Ja«, hatte er gesagt. »Es
könnte sein, dass du richtig liegst.« Er war mal wieder durch den Raum
getigert.
»Angenommen,
wir tun, was der Graf sagt, und geben Gideon unser Blut«, fuhr Lucy fort.
»Dann kann er den Blutkreislauf des zweiten Chronografen schließen und das
Elixier dem Grafen übergeben, der wiederum unsterblich wird.«
»Was exakt
der Grund ist, warum wir das seit Jahren wie Pest und Hölle vermeiden, oder?«,
sagte Paul.
Lucy hob
die Hand. »Moment. Lass es uns wenigstens durchdenken.«
Ich nickte.
Ich wusste zwar nicht genau, worauf sie hinauswollte, aber irgendwo in meinem
Hinterkopf bildete sich ein leises Fragezeichen, das sich zu einem
Ausrufezeichen auswuchs. »Der Graf wird unsterblich, und zwar bis zu meiner
Geburt.«
»Korrekt«,
sagte Gideon. Er blieb stehen. »Was nichts anderes heißt, als dass er
quicklebendig in der Weltgeschichte herumspringt. Und zwar auch noch in
unserer Gegenwart.«
Paul zog
die Brauen zusammen. »Ihr meint. ..«
Lucy
nickte. »Wir meinen, dass der Graf sich das ganze Drama live und in Farbe
anschaut.« Sie machte eine kleine Pause. »Und ich vermute, er hat einen Platz
in der ersten Reihe.«
»Der
Innere Kreis«, tippte ich.
Die
anderen nickten. »Der Innere Kreis. Der Graf ist einer von den Wächtern.«
Ich
schaute dem Grafen ins Gesicht. Wer war er? Die Uhr
über dem Kamin tickte laut. Es würde noch unendlich lange dauern, bis ich
zurücksprang.
Der Graf
bedeutete mir, mich auf einen der Sessel niederzulassen, goss uns zwei Gläser
mit dunkelrotem Wein ein und reichte mir eins davon. Dann nahm er auf dem
Sessel gegenüber Platz und prostete mir zu. »Zum Wohl, Gwendolyn! Heute vor
zwei Wochen haben wir uns übrigens kennengelernt, na ja, jedenfalls von mir
aus betrachtet. Mein erster Eindruck von dir war leider nicht gerade der beste.
Aber mittlerweile sind wir Freunde geworden, oder?«
Ja, klar.
Ich nippte an meinem Wein und sagte dann: »Bei diesem ersten Treffen habt Ihr
mich beinahe erwürgt.« Ich nahm noch einen Schluck. »Damals dachte ich, dass
Ihr
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