Gier, Kerstin
Lucy und Paul
steckte uns noch in den Knochen, sprichwörtlich. Dass Zeitsprünge so anstrengend
sein konnten, war mir erst klar gewesen, als wir auf dem Rückweg mitten in eine
Kirchenchorprobe geplatzt waren und verfolgt von mehreren siebzigjährigen
kreischenden Sopranistinnen das Weite suchen mussten. Aber wenigstens waren
wir jetzt gewappnet, was unser Treffen mit dem Grafen von Saint Germain anging.
Es war Lucy gewesen, die uns auf die entscheidende Idee gebracht hatte, und
diese Idee war auch der Grund für besagte nägelkauende Unruhe.
»Junge!
Fahr anständig«, kreischte Xemerius und hielt sich die Krallen vor die Augen.
»Die Ampel war so was von dunkelrot!«
Gideon gab
Gas und nahm einem Taxi die Vorfahrt, bevor er nach rechts in Richtung
Hauptquartier der Wächter einbog. Wenig später hielt er mit quietschenden
Reifen auf dem Parkplatz. Er wandte sich mir zu und legte seine Hände auf meine
Schulter. »Gwendolyn«, begann er ernst. »Was auch immer passieren wird . ..«
Weiter kam
er nicht. Denn in dem Moment wurde auf meiner Seite die Wagentür aufgerissen.
Ich wollte schon herumfahren und den unsäglichen Mr Marley zur Schnecke
machen, aber es war Mr George, der sich besorgt über die blank polierte Glatze
strich. »Gideon, Gwendolyn, endlich!«, sagte er vorwurfsvoll. »Ihr seid schon
über eine Stunde zu spät.«
»Je später
der Abend, desto schöner die Gäste«, krähte Xemerius und hüpfte von meinem
Schoß. Ich warf Gideon einen Blick zu, seufzte und stieg aus.
»Kommt,
Kinder«, drängte Mr George uns und nahm meinen Arm. »Es ist schon alles
vorbereitet.«
Alles das
war ein Traum aus cremefarbenen Stickereien und Spitze kombiniert mit Samt und
Brokat in einem kühlen Goldton für mich und ein bunt bestickter Rock für
Gideon.
»Sind das
etwa Affen?« Gideon starrte das Kleidungsstück an,
als wäre es mit Blausäure getränkt.
»Genau
genommen Kapuzineräffchen.« Madame Rossini strahlte Gideon an und versicherte
ihm, dass exotische Tierstickereien 1782 der allerletzte Schrei gewesen seien.
Sie wollte ausholen und uns erklären, wie viel Zeit es sie gekostet hatte, die
Stickdatei nach Originalvorlagen für ihre Nähmaschine zu generieren, aber da
griff Mr George ein, der vor der Tür gewartet und auf seine goldene Uhr
gestarrt hatte. Ich hatte keine Ahnung, warum er so in Eile war. Für den Grafen
machte es schließlich keinen Unterschied, wie spät es gerade war.
»Ihr
elapsiert heute im Dokumentenraum«, verkündete Mr George und ging schon einmal
voraus. Falk und die anderen Wächter hatten wir bisher noch nicht zu Gesicht
bekommen, vermutlich saßen sie im Drachensaal zusammen und erneuerten ihren
Wächterschwur oder tranken auf die goldenen Regeln oder taten das, was Wächter
eben sonst so tun.
Nur Mrs
Jenkins eilte mit einem dicken Aktenordner über den Flur und winkte uns zu.
(Und das an einem Sonntag!)
»Mr George
- wie lauten die Anweisungen für heute?«, fragte Gideon. »Gibt es Einzelheiten,
die wir beachten müssen?«
»Nun, für
den Graf von Saint Germain ist seit dem Ball genauso viel Zeit vergangen wie
für euch, nämlich zwei Tage«, erklärte Mr George bereitwillig. »Die Anweisungen
in seinem Brief verwirren uns selber ein wenig. Demnach soll dein Besuch nur
fünfzehn Minuten dauern, Gideon, während Gwendolyn dreieinhalb Stunden mit dem
Grafen verbringen wird.
Wir
vermuten jedoch, dass du mit anderen Aufgaben betraut wirst, bei denen dein
Zeitkontingent benötigt wird, denn er hat ausdrücklich geschrieben, dass ihr
vorher nicht elapsieren sollt.« Er hielt einen Moment inne und schaute durch
das tiefe Fenster hinüber zur Temple Church, die man von hier aus gut im Blick
hatte. »Aus den Andeutungen sind wir nicht ganz schlau geworden, aber...
offenbar ist sich der Graf sicher, dass die Schließung des Blutkreises
unmittelbar bevorsteht. Wir sollen uns alle bereithalten, hat er geschrieben.«
»Oh, oh«,
sagte Xemerius.
Oh, oh,
dachte auch ich und warf Gideon einen kurzen Blick zu. Das klang ganz danach,
als habe der Graf mit einem Scheitern der eigentlich für gestern angesetzten
Operation Saphir und Schwarzer Turmalin gerechnet. Und als habe er von
vorneherein einen anderen Plan gehabt.
Möglicherweise
einen genialeren Plan als wir.
Meine
nägelkauende Unruhe wurde zu nackter Angst. Die Vorstellung, mit dem Grafen
allein zu sein, ließ eine Gänsehaut auf meinen Armen wachsen. Als ob Gideon
meine Gedanken lesen könnte, blieb er stehen und zog mich an
Weitere Kostenlose Bücher