Gier, Kerstin
gar nichts mit
Gideon zu tun! Du hast nur Schiss, dich in Raphael zu verlieben!«
»Quatsch.
Er ist überhaupt nicht mein Typ!«
Aha. Das
sagte alles. Schließlich war ich ihre beste Freundin und kannte Leslie seit
Ewigkeiten. Wobei sie mit ihrer Antwort nicht mal Cynthia auf die falsche
Fährte gelockt hätte.
»Komm
schon, Les. Wem willst du hier etwas vormachen?« Ich musste lachen.
Leslie
wandte den Blick endlich von den Ankündigungen und sah mich grinsend an. »Und
wennschon! Wir können es uns im Augenblick nicht leisten, beide unter
hormoneller Gehirnaufweichung zu leiden. Es reicht doch wohl, dass eine von
uns nicht mehr zurechnungsfähig ist.«
»Vielen
Dank.«
»Ist doch
wahr! Weil du nur mit Gideon beschäftigt bist, realisierst du einfach nicht den
Ernst der Lage. Du brauchst jemanden, der klar denken kann, und das bin ich.
Ich werde mich nicht von diesem Franzosen einwickeln lassen, so viel steht
fest.«
»Ach,
Les!« Ich fiel ihr spontan um den Hals. Niemand, niemand, niemand auf der
Welt hatte so eine wunderbare, verrückte, kluge Freundin wie ich. »Wie
schrecklich wäre das, wenn du meinetwegen darauf verzichten müsstest, glücklich
verliebt zu sein.«
»Jetzt
übertreib doch nicht gleich wieder so.« Leslie prustete mir ins Ohr. »Wenn der
Typ nur halbwegs nach seinem Bruder kommt, hätte er mir spätestens nach einer
Woche das Herz gebrochen.«
»Na und?«,
sagte ich und gab ihr einen Klaps. »Das ist doch aus Marzipan und kann immer
wieder neu geformt werden!«
»Mach dich
nicht lustig darüber. Die Marzipanherzen sind eine Metapher, auf die ich
wirklich stolz bin.«
»Na klar.
Eines Tages wirst du in Kalendern auf der ganzen Welt zitiert werden«, sagte
ich. »Herzen können gar nicht brechen, weil sie nämlich aus
Marzipan sind. Metapher der weisen Leslie Hay.«
»Leider
falsch«, sagte eine Stimme neben uns. Sie gehörte unserem Englischlehrer, Mr
Whitman, der auch an diesem Morgen für einen Lehrer viel zu gut aussah.
»Was
verstehen Sie schon von der Konsistenz weiblicher Herzen?«, hätte ich gern
gefragt, aber Mr Whitman gegenüber hielt man sich besser zurück. Genau wie Mrs
Counter verteilte er gern Extra-Hausarbeiten zu exotischen Themen und so lässig
er aussah, so unerbittlich konnte er auch sein.
»Was bitte
schön ist falsch?«, fragte Leslie, jede Vorsicht in den Wind blasend.
Er sah uns
kopfschüttelnd an. »Ich dachte, wir hätten die Unterschiede zwischen Metaphern,
Vergleichen, Symbolen und Bildern zur Genüge besprochen. Man kann die Redensart
mit dem gebrochenen Herzen von mir aus zu den Metaphern zählen, aber das Marzipan
ist ganz klar was?«
Wen zur
Hölle interessierte das? Und seit wann begann der Unterricht schon im Flur?
»Ein Symbol... äh ... Vergleich?«, fragte ich.
Mr Whitman
nickte. »Wenn auch ein ziemlich schlechter«, sagte er lachend. Dann wurde sein
Gesicht wieder ernst. »Du siehst müde aus, Gwendolyn. Die ganze Nacht wach gelegen,
gegrübelt und die Welt nicht mehr verstanden, nicht wahr?«
Na aber
... das ging ihn doch nun wirklich nichts an. Und seinen mitleidigen Tonfall
konnte er sich auch schenken.
Er
seufzte. »Das ist wohl alles ein bisschen viel für dich.« Er fingerte an seinem
Siegelring herum, der ihn als Mitglied der Wächter auswies. »Was zu erwarten
war. Vielleicht sollte dir Dr. White etwas verschreiben, das dir wenigstens
nachts Ruhe verschafft.« Meinen pikierten Blick quittierte er mit einem
aufmunternden Lächeln, bevor er sich umdrehte und vor uns her zu unserem
Klassenraum ging.
»Habe ich
mich verhört oder hat Mr Whitman gerade vorgeschlagen, mir Schlafmittel zu
verabreichen?«, erkundigte ich mich bei Leslie. »Gleich nachdem er gesagt hat,
ich sähe scheiße aus, meine ich.«
»Ja, das
könnte ihm wohl so passen!«, schnaubte Leslie. »Tagsüber eine Marionette der
Wächter, nachts betäubt, damit du bloß nicht auf dumme Gedanken kommst. Aber
nicht mit uns.« Energisch strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Denen werden wir zeigen, dass sie dich gnadenlos unterschätzen.«
»Äh«,
machte ich, aber Leslie sah mich grimmig entschlossen an.
»Masterplan
erstellen, erste Pause, Mädchenklo.«
»Zu Befehl«,
sagte ich.
Mr Whitman
hatte übrigens unrecht: Ich sah gar nicht müde aus (das hatte ich in den Pausen
mehrfach im Spiegel auf dem Mädchenklo überprüft), seltsamerweise fühlte ich
mich noch nicht mal so. Nach unserer nächtlichen Schatzsuchaktion war ich
ziemlich schnell wieder
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