Gier, Kerstin
eingeschlafen und von Albträumen verschont geblieben.
Vielleicht hatte ich sogar etwas Schönes geträumt, denn in den magischen
Sekunden zwischen Schlafen und Erwachen hatte ich mich zuversichtlich und
voller Hoffnung gefühlt. Mit dem endgültigen Wachwerden allerdings hatten sich
die traurigen Fakten wieder in mein Bewusstsein geschoben, allen voran: Gideon hat
mir nur etwas vorgespielt.
Aber ein
bisschen von dieser Hoffnungsstimmung hatte sich bis in den Tag hinübergerettet.
Vielleicht lag es daran, dass ich endlich mal ein paar Stunden am Stück
geschlafen hatte, oder womöglich war mir auch im Traum nur klar geworden, dass
Schwindsucht mittlerweile heilbar war. Oder meine Tränendrüsen waren einfach
leer.
»Meinst
du, es könnte sein, dass Gideon zwar geplant hatte, mich in sich verliebt zu
machen, sich dann aber tatsächlich - sozusagen aus Versehen - in mich verliebt
hat?«, fragte ich Leslie vorsichtig, als wir nach dem Unterricht unsere Sachen
zusammenpackten. Den ganzen Vormittag hatte ich das Thema - zugunsten eines
klaren Kopfes während des Schmiedens unseres Masterplans - gemieden, aber
jetzt musste ich einfach darüber reden, sonst wäre ich geplatzt.
»Ja«,
sagte Leslie nach kurzem Zögern. »Wirklich?«, fragte ich überrascht.
»Vielleicht
war es ja das, was er dir gestern unbedingt noch sagen wollte. Bei Filmen regen
wir uns doch immer so furchtbar über diese künstlichen Missverständnisse auf,
die vor dem Happy End noch mal für Spannung sorgen sollen. Und die eigentlich
mit ein bisschen Kommunikation aus der Welt geschafft werden könnten.«
»Genau!
Das ist die Stelle, an der du immer schreist: Sag's ihm
doch einfach, du dämliche Kuh!«
Leslie
nickte. »Aber im Film kommt immer etwas dazwischen. Der Hund hat das
Telefonkabel durchgebissen, die fiese Gegenspielerin gibt die Nachricht nicht
weiter, die Mutter behauptet, man sei nach Kalifornien gezogen ... du weißt
schon!« Sie reichte mir ihre Haarbürste und betrachtete mich prüfend. »Weißt
du, je mehr ich darüber nachdenke, desto unwahrscheinlicher erscheint es mir,
dass er sich nicht in dich verliebt haben könnte.«
Vor lauter
Erleichterung bekam ich feuchte Augen. »Dann wäre er zwar immer noch ein
Mistkerl, aber ... ich glaube, das könnte ich ihm verzeihen.«
»Ich
auch«, sagte Leslie und strahlte mich an. »Ich habe wasserfeste Wimperntusche
und Lipgloss dabei - willst du?«
Schaden
konnte es jedenfalls nicht.
Als wir
den Klassenraum verließen, waren wir wieder einmal die Letzten. Ich war jetzt
so gut gelaunt, dass Leslie sich verpflichtet fühlte, mir den Ellenbogen in
die Rippen zu stoßen. »Ich will deinen Enthusiasmus wirklich nicht ausbremsen,
aber es könnte auch sein, dass wir falschliegen. Weil wir zu viele romantische
Filme gesehen haben.«
»Ja, weiß
ich doch«, sagte ich. »Oh, da ist James.« Ich blickte mich um. Die meisten
Schüler waren schon auf dem Weg nach draußen, sodass sich nur wenige wundern
mussten, warum ich mit einer Nische sprach.
»Hallo,
James!«
»Guten
Tag, Miss Gwendolyn.« Wie immer trug er einen geblümten Gehrock, Kniebundhosen
und cremeweiße Strümpfe. Seine Füße steckten in Brokatschuhen mit silbernen
Schnallen und sein Halstuch war so kunstvoll und kompliziert gebunden, dass er
es unmöglich selber gemacht haben konnte. Am befremdlichsten waren die
Lockenperücke, die Puderschicht in seinem Gesicht und die aufgeklebten Leberflecken,
die er aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen »Schönheitspflästerchen«
nannte. Ohne den ganzen Kram und in vernünftigen Klamotten hätte James
wahrscheinlich ziemlich gut ausgesehen.
»Wo warst
du denn heute Vormittag, James? Wir waren für die zweite Pause verabredet,
weißt du nicht mehr?«
James
schüttelte den Kopf. »Ich hasse dieses Fieber. Und ich mag diesen Traum nicht -
hier ist alles so ... hässlich!« Er seufzte
schwer und zeigte hinauf zur Decke. »Ich frage mich, welche Banausen die
Fresken überstrichen haben. Mein Vater hat ein Vermögen dafür ausgegeben. Ich
mag die Schäferin in der Mitte sehr, sie ist ausgesprochen meisterlich gemalt,
auch wenn meine Mutter immer sagt, sie sei zu freizügig gekleidet.« Missmutig
betrachtete er zuerst mich, dann Leslie, wobei sein Blick besonders lange am
Plisseerock unserer Schuluniform und unseren Knien hängen blieb. »Wenn meine
Mutter allerdings wüsste, wie die Personen in meinem Fiebertraum gekleidet
wären - sie wäre entsetzt! Ich bin ja selber entsetzt. Nie im
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