Gier, Kerstin
triumphierendes
Grinsen. Das allerdings gefror mir gleich darauf im Gesicht. Auf der Treppe vor
dem Eingang zum Hauptquartier der Wächter saß Gideon in der Sonne. Mist! Ich
war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, mir eine schlagfertige Antwort für
Charlotte auszudenken, als dass ich auf die Umgebung geachtet hätte. Das dumme
Marzipanherz in meiner Brust wusste nicht, ob es sich vor Unbehagen
zusammenkrampfen oder vor Freude schneller schlagen sollte.
Als er uns
sah, stand Gideon auf und klopfte sich den Staub von der Jeans. Ich
verlangsamte meine Schritte und versuchte zu entscheiden, wie ich mich ihm
gegenüber verhalten sollte. Mit bebender Unterlippe würde sich die
»freundlich, aber betont gleichgültig«-Variante wohl nicht besonders
glaubwürdig darstellen lassen. Leider schien auch die »kühl, weil zu Recht unheimlich
sauer«-Variante angesichts des überwältigenden Bedürfnisses, mich einfach in
seine Arme zu stürzen, nicht durchführbar zu sein. Ich biss mir also auf die
widerspenstige Unterlippe und versuchte, möglichst neutral zu gucken. Beim
Näherkommen sah ich mit einer gewissen Genugtuung, dass Gideon ebenfalls auf
seiner Unterlippe herumkaute und auch sonst ziemlich nervös wirkte. Obwohl er
unrasiert war und seine braunen Locken so aussahen, als habe er sie sich
lediglich mit seinen Fingern gekämmt, wenn überhaupt, war ich wieder einmal
von seinem Anblick hingerissen. Unschlüssig blieb ich am Fuß der Treppe stehen
und ungefähr zwei Sekunden lang schauten wir einander direkt in die Augen.
Dann ließ er den Blick zur gegenüberliegenden Hausfassade schweifen und
begrüßte die mit einem »Hallo«. Ich fühlte mich jedenfalls nicht angesprochen,
dafür schob Charlotte sich an mir vorbei die Stufen hinauf. Sie legte einen Arm
um Gideons Hals und küsste ihn auf die Wange. »Hallo, du«, sagte sie.
Das war
zugegeben viel eleganter, als nur wie angewurzelt dazustehen und dumm zu
glotzen. Auf Mr Marley schien mein Verhalten wie ein kleiner Schwächeanfall zu
wirken, denn er fragte: »Soll ich vielleicht Ihre Tasche tragen, Miss?«
»Nein
danke, das geht schon.« Ich gab mir einen Ruck, packte die heruntergerutschte
Tasche und setzte mich wieder in Bewegung. Anstatt mein Haar in den Nacken zu
werfen und mit eisigem Blick an Gideon und Charlotte vorbeizurauschen, erklomm
ich die Stufen mit dem Elan einer altersschwachen Weinbergschnecke.
Möglicherweise hatten Leslie und ich doch einfach nur viel zu viele romantische
Filme angeschaut. Aber da schob Gideon Charlotte von sich und griff nach
meinem Arm.
»Kann ich
mal kurz mit dir reden, Gwen?«, fragte er.
Vor
Erleichterung knickten mir fast die Knie ein. »Sicher.«
Mr Marley
trat nervös von einem Bein auf das andere. »Wir sind schon ein bisschen spät
dran«, murmelte er mit feuerroten Ohren.
»Er hat
recht«, zwitscherte Charlotte. »Gwenny hat vor dem Elapsieren noch Unterricht
und du weißt ja, wie Giordano ist, wenn man ihn warten lässt.« Ich hatte keine
Ahnung, wie sie es anstellte, aber ihr perlendes Lachen klang wirklich echt.
»Kommst du, Gwenny?«
»Sie ist
in zehn Minuten da«, sagte Gideon.
»Hat das
nicht Zeit bis später? Giordano ist.. .«
»Ich
sagte, zehn Minuten!« Gideons Tonfall hatte die Grenze zur Unhöflichkeit
haarscharf überschritten und Mr Marley sah richtig erschrocken aus. Ich
vermutlich auch.
Charlotte
zuckte mit den Schultern. »Wie du meinst«, sagte sie, warf den Kopf in den
Nacken und rauschte davon. Sie konnte das ausgezeichnet. Mr Marley folgte ihr
eilig.
Als die
beiden im Hausflur verschwunden waren, schien Gideon vergessen zu haben, was er
sagen wollte. Er starrte wieder die dumme Hausfassade gegenüber an und rieb
sich mit der Hand den Nacken, als hätte er dort eine schlimme Verspannung.
Schließlich holten wir beide gleichzeitig Luft. »Wie geht es deinem Arm?«,
fragte ich und im selben Moment fragte Gideon: »Geht es dir gut?«, und dann
mussten wir beide grinsen.
»Meinem
Arm geht es bestens.« Endlich sah er mich wieder an. Oh mein Gott! Diese Augen!
Meine Knie wurden sofort wieder weich und ich war froh, dass Mr Marley nicht
mehr da war.
»Gwendolyn,
das tut mir alles fürchterlich leid. Ich habe mich . .. ganz und gar
unverantwortlich verhalten. Das hast du wirklich nicht verdient.« Er sah so
unglücklich aus, dass ich es kaum ertragen konnte. »Ich habe gestern Abend ungefähr
hundertmal auf deinem Handy angerufen, aber es war die ganze Zeit besetzt.«
Ich
überlegte, ob ich
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