Gier, Kerstin
Meerjungfrau, Julia,
Pocahontas, die Kameliendame, Madame Butterfly - und jetzt eben auch ich,
Gwendolyn Shepherd. Das Gute war, die Nummer mit dem (Drama-)Dolch würde ich
mir sparen können, denn so elend, wie ich mich fühlte, war ich längst mit der
Schwindsucht infiziert, da starb es sich doch gleich viel malerischer. Bleich
und schön wie Schneewittchen würde ich auf meinem Bett liegen, das Haar auf
dem Kissen ausgebreitet. Gideon würde neben mir knien und bitterlich bereuen,
was er getan hatte, wenn ich meine letzten Worte hauchte ...
Aber
vorher musste ich noch dringend zur Toilette.
Pfefferminztee
mit reichlich Zucker und Zitrone war in unserer Familie eine Art Allheilmittel
gegen Kummer und ich hatte eine ganze Kanne davon getrunken. Meiner Mutter war
nämlich sofort aufgefallen, dass es mir nicht gut ging, als ich zur Tür
reinkam. Das war auch kein Kunststück, denn vom vielen Weinen sah ich aus wie
ein Albinokaninchen. Sie hätte mir ganz bestimmt nicht abgenommen, dass ich
während der Fahrt vom Hauptquartier der Wächter nach Hause in der Limousine
Zwiebeln hatte schneiden müssen, wie es Xemerius als Ausrede vorgeschlagen
hatte.
»Haben
diese verdammten Wächter dir etwas getan? Was ist passiert?«, hatte sie gefragt
und dabei das Kunststück fertiggebracht, gleichzeitig mitleidig und ungeheuer
wütend auszusehen. »Ich werde Falk umbringen, wenn ...«
»Niemand
hat mir etwas getan, Mum«, hatte ich mich beeilt, ihr zu versichern. »Und es
ist nichts passiert.«
»Als ob
sie dir das glauben würde! Warum hast du nicht das mit den Zwiebeln gesagt? Nie
hörst du auf mich.« Xemerius hatte mit seinen Klauen auf den Boden gestampft.
Er war ein kleiner steinerner Wasserspeierdämon mit großen Ohren,
Fledermausflügeln, einem langen geschuppten Drachenschwanz und zwei kleinen
Hörnern auf einem katzenähnlichen Kopf. Leider war er nur halb so süß, wie er
aussah, und leider konnte niemand außer mir seine unverschämten Bemerkungen
hören und ihm entsprechend Paroli bieten. Dass ich Wasserspeierdämonen und
andere Geister sehen und seit meiner frühen Kindheit mit ihnen sprechen konnte,
war übrigens nur eine der bizarren Eigenschaften, mit denen ich leben musste.
Die andere war noch bizarrer und ich wusste selber erst seit knapp zwei Wochen
davon, nämlich, dass ich zu einem - geheimen! - Kreis von zwölf Zeitreisenden
gehörte und täglich für ein paar Stunden irgendwohin in die Vergangenheit
springen musste. Eigentlich hätte der Fluch, Pardon, die Gabe, in der Zeit
reisen zu können, meine Cousine Charlotte ereilen sollen, die dafür viel
besser geeignet gewesen wäre, aber tatsächlich hatte sich herausgestellt, dass
ich die Dumme war. Was mir von vorneherein hätte klar sein sollen, denn ich zog
immer den Schwarzen Peter, also im übertragenen Sinne. Beim Weihnachtswichteln
war ich diejenige, die den Zettel mit dem Namen der Lehrerin erwischte (und was
bitte schenkt man seiner Lehrerin?), wenn ich Karten für ein Konzert hatte,
wurde ich ganz bestimmt krank (wahlweise auch gerne in den Ferien), und wenn ich
besonders gut aussehen wollte, bekam ich einen Pickel auf der Stirn, so groß
wie ein drittes Auge. Zeitreisen mögen sich zwar im ersten Moment nicht mit
Pickeln vergleichen lassen und sich vielleicht sogar nach etwas
Beneidenswertem und Lustigem anhören, aber das sind sie nicht. Sie sind
vielmehr lästig, nervenaufreibend und gefährlich. Und nicht zu vergessen:
Hätte ich diese blöde Gabe nicht geerbt, hätte ich niemals Gideon
kennengelernt, was hieße, dass mein Herz - ob aus Marzipan oder nicht - noch
ganz wäre. Der Mistkerl war nämlich auch einer der zwölf Zeitreisenden. Einer
der wenigen, die noch lebten. Die anderen konnte man nur noch in der Vergangenheit
treffen.
»Du hast
geweint«, hatte meine Mutter nüchtern festgestellt.
»Siehst
du«, hatte Xemerius gerufen. »Jetzt wird sie dich ausquetschen wie eine Zitrone
und keine Sekunde mehr aus den Augen lassen und aus der Schatzsuche wird heute
Nacht nichts mehr.«
Ich hatte
ihm eine Grimasse geschnitten, um anzudeuten, dass mir heute Nacht ganz
bestimmt nicht mehr nach Schatzsuche zumute war. Na ja, wie man das eben so
macht mit unsichtbaren Freunden, wenn man nicht möchte, dass andere einen für
verrückt halten, weil man mit der Luft spricht.
»Sag, du
hast dein Pfefferspray ausprobiert und es dir dabei aus Versehen in die Augen
gesprüht«, hatte die Luft gekräht.
Aber ich
war zum Lügen viel zu erschöpft
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