Gier, Kerstin
zu
können.
»Ach,
Süße! Unter anderen Umständen dürftest du dich von mir aus noch wochenlang im
Unglück suhlen. Aber das kannst du dir im Augenblick einfach nicht leisten. Du
brauchst deine Energie für andere Dinge. Zum Überleben zum Beispiel.« Leslie
klang ungewöhnlich streng. »Also reiß dich jetzt gefälligst mal zusammen!«
»Das hat
Xemerius auch schon gesagt. Bevor er abgehauen ist und mich allein gelassen
hat.«
»Das
kleine unsichtbare Monster hat recht! Wir müssen jetzt einen klaren Kopf
behalten und alle Fakten zusammentragen. Puh, was ist das denn? Warte mal, ich
muss das Fenster aufmachen, Bertie hat einen seiner entsetzlichen Betäubungs-Furze
losgelassen ... böser Hund! Wo war ich stehen geblieben? Ja, genau, wir müssen
herausfinden, was dein Großvater in eurem Haus versteckt hat.« Leslies
Stimmlage wurde ein bisschen höher. »Raphael hat sich als ziemlich nützlich
erwiesen, würde ich mal sagen. Vielleicht ist er ja gar nicht so dämlich, wie
man so denkt.«
»Wie du so denkst,
meinst du wohl.« Raphael war Gideons kleiner Bruder, der seit Neustem auf
unsere Schule ging. Er hatte entdeckt, dass es sich bei dem Rätsel, das mein
Großvater mir hinterlassen hatte, um geografische Koordinaten gehandelt
hatte. Und die hatten direkt zu unserem Haus geführt. »Mich würde brennend
interessieren, wie viel Raphael von den Geheimnissen der Wächter und Gideons
Zeitreisen so mitbekommt.«
»Möglicherweise
mehr, als man so vermuten sollte«, sagte Leslie. »Jedenfalls hat er mir meine
Story nicht abgenommen, von wegen, dass Mystery-Spiele in London gerade der
neueste Schrei wären. Aber er war klug genug, keine Fragen zu stellen.« Hier
machte sie eine kleine Pause. »Er hat ziemlich schöne Augen.«
»Allerdings.«
Die Augen waren wirklich schön, was mich daran erinnerte, dass Gideon genau die
gleichen hatte. Grün und von dichten dunklen Wimpern umrahmt.
»Nicht,
dass mich das irgendwie beeindrucken würde, es ist nur eine Feststellung ...«
»Ich habe
mich in dich verliebt.« Ganz ernst hatte Gideon das gesagt
und mir dabei direkt in die Augen gesehen. Und ich hatte zurückgestarrt und ihm
jedes Wort geglaubt! Meine Tränen begannen wieder zu fließen und ich konnte
kaum noch hören, was Leslie sagte.
»... aber
ich hoffe, es ist ein langer Brief oder eine Art Tagebuch, in dem dein
Großvater dir alles erklärt, was dir die anderen verschweigen, und noch ein
bisschen mehr. Dann müssten wir nicht länger im Dunkeln tappen und können
endlich einen richtigen Plan machen ...«
Solche
Augen sollten verboten werden. Oder man müsste ein Gesetz erlassen, nach dem
Jungs mit so schönen Augen nur noch mit Sonnenbrillen herumlaufen dürften.
Außer, sie hätten zum Ausgleich riesige Segelohren oder so was ...
»Gwenny?
Heulst du etwa schon wieder?« Jetzt hörte sich Leslie genauso an wie Mrs
Counter, unsere Erdkundelehrerin, wenn man ihr sagte, dass man leider die
Hausaufgaben vergessen habe. »Süße, das ist nicht gut! Du musst damit aufhören,
dir den Drama-Dolch immer und immer wieder in der Brust herumzudrehen! Wir
brauchen ...«
»... einen
kühlen Kopf! Du hast ja recht.« Obwohl es mich Überwindung kostete, versuchte
ich, die Erinnerung an Gideons Augen aus meinem Kopf zu verdrängen und ein
wenig Zuversicht in meine Stimme zu legen. Das war ich Leslie einfach
schuldig. Schließlich war sie diejenige, die mich ohne jedes Wenn und Aber seit
Tagen unterstützte. Bevor sie auflegte, musste ich ihr daher unbedingt noch
sagen, wie froh ich war, dass ich sie hatte. (Auch wenn ich dabei wieder ein
bisschen zu weinen begann, aber dieses Mal vor Rührung.)
»Und ich
erst!«, versicherte mir Leslie. »Wie langweilig wäre mein Leben ohne dich.« Als
sie auflegte, war es kurz vor Mitternacht und ich hatte mich tatsächlich für
ein paar Minuten etwas besser gefühlt, aber jetzt, um zehn nach drei, hätte ich
sie liebend gern wieder angerufen und das Ganze noch mal durchgekaut.
Von Natur
aus neigte ich gar nicht so sehr zum Jammern, es war nur das erste Mal in
meinem Leben, dass ich Liebeskummer hatte. So richtigen Liebeskummer, meine
ich. Die Sorte, die wirklich wehtut. Alle anderen Dinge rückten dabei weit in
den Hintergrund. Selbst das Überleben wurde zur Nebensache. Ganz ehrlich: Der
Gedanke ans Sterben war für den Augenblick gar nicht mal so unangenehm.
Schließlich wäre ich nicht die Erste, die an gebrochenem Herzen starb, da
befand ich mich in bester Gesellschaft: die kleine
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