Gier, Kerstin
Zimmer, gerade wie eine Kirchenkerze, das Kinn weit angehoben.
»Das hier geht dich nichts an.«
Charlotte
hatte sich in der Zwischenzeit durch die Menschenmenge in Richtung Wandschrank
gekämpft, die Tür aufgerissen und zeigte jetzt auf die Truhe. »Hier ist sie!«
»Das geht
mich sehr wohl etwas an. Es ist meine Truhe«,
rief Tante Maddy wieder, diesmal mit Verzweiflung in der Stimme. »Ich habe sie
Gwendolyn nur geliehen!«
»Unsinn«,
sagte Lady Arista. »Die Truhe gehörte Lucas. Ich habe mich schon gefragt, wo
sie all die Jahre abgeblieben ist.« Ihre eisblauen Augen musterten mich. »Junge
Dame, wenn Charlotte recht hat, möchte ich nicht in deiner Haut stecken.«
Ich zog
die Decke noch ein Stückchen höher und überlegte, ganz darunter zu
verschwinden.
»Sie ist
abgeschlossen«, meldete Charlotte, über die Truhe gebeugt.
Lady
Arista streckte ihre Hand aus. »Den Schlüssel, Gwendolyn.«
»Hab ich
nicht.« Meine Stimme klang dumpf, was an der Decke lag. »Und ich verstehe auch
nicht, was .. .«
»Sei nicht
so verstockt«, fiel Lady Arista mir ins Wort. Da Leslie sich aber den Schlüssel
vorhin wieder um den Hals gehängt hatte, blieb mir gar nichts anderes übrig,
als verstockt zu sein.
Charlotte
begann, meine Schreibtischschubladen zu durchwühlen, und Tante Maddy schlug
ihr auf die Finger. »Jetzt schäm dich aber!«
Mr Marley
räusperte sich. »Mit Verlaub, Lady Montrose, wir haben in Temple Mittel und
Wege, das Schloss auch ohne einen Schlüssel zu öffnen ...«
»Mittel
und Wege«, äffte Xemerius seinen geheimnistuerischen Tonfall nach.
»Als ob Brecheisen irgendwas Magisches seien. Blöder Angeber!«
»Nun gut,
dann nehmen Sie halt die Truhe mit«, sagte Lady Arista. Sie drehte sich zur Tür
um. »Mr Bernhard«, hörte ich sie rufen. »Geleiten Sie die Herrschaften nach
unten.«
»Man
sollte doch denken, dass die bei den Wächtern genug Antiquitäten haben«, sagte
Xemerius. »Gieriges Völkchen, das.«
»Ich
protestiere noch einmal in aller Ausdrücklichkeit«, rief Tante Maddy, während
Mr Marley und der andere Mann die Truhe grußlos aus dem Zimmer trugen. »Das
ist... Hausfriedensbruch. Wenn Grace erfährt, dass man einfach so in ihre
Wohnung eindringt, wird sie schrecklich wütend werden.«
»Es ist
immer noch mein Haus«, sagte Lady Arista kühl. Sie
wandte sich bereits zum Gehen. »Und hier gelten meine Regeln.
Dass Gwendolyn sich ihrer Pflichten nicht bewusst ist und sich einer Montrose
leider als unwürdig erweist, kann man vielleicht noch mit ihrem jugendlichen
Alter und der mangelnden Aufklärung entschuldigen, aber du, Madeleine, solltest
wissen, wofür dein Bruder sein ganzes Leben lang gearbeitet hat! Bei dir hätte
ich mehr Sinn für die Familienehre erwartet. Ich bin schwer enttäuscht. Von
euch beiden.«
»Ich bin
auch enttäuscht.« Tante Maddy stemmte die Hände in ihre Taille und blickte der
davonstolzierenden Lady Arista zornig nach. »Von euch beiden.
Wir sind schließlich eine Familie!« Weil Lady Arista sie nicht mehr hören
konnte, wandte sie sich an Charlotte: »Häschen! Wie konntest du nur?«
Charlotte
wurde rot. Für einen ganz kurzen Augenblick sah sie dem unsäglichen Mr Marley
ähnlich und ich überlegte, wo ich mein Handy hatte. Den Anblick hätte ich zu
gern für die Nachwelt festgehalten. Oder für spätere Erpressungsversuche.
»Ich
konnte ja nicht zulassen, dass Gwendolyn etwas boykottiert, was sie nicht mal kapiert«, sagte
Charlotte und ihre Stimme zitterte sogar ein bisschen. »Einfach nur aus ihrem
Drang heraus, sich ständig und überall in den Vordergrund zu spielen. Sie ...
sie hat keinen Respekt vor den Mysterien, mit denen sie unverdienterweise
verbunden ist.« Sie warf mir einen giftigen Blick zu und der schien ihr dabei
zu helfen, sich wieder ein bisschen zu fangen. »Das hast du dir alles selber
eingebrockt!«, fauchte sie mit neuem Elan. »Ich habe sogar noch angeboten, dir
zu helfen! Aber nein! Du musst ja immer gegen irgendwelche Regeln verstoßen.«
Mit diesen Worten verwandelte sie sich zurück in ihr eigenes Ich und tat das,
was sie am besten konnte: das Haar in den Nacken werfen und davonrauschen.
»Ogottogott«,
sagte Tante Maddy und ließ sich auf meine Bettkante plumpsen. Xemerius konnte
sich gerade noch rechtzeitig zur Seite wälzen. »Was machen wir denn jetzt?
Bestimmt werden sie dich abholen, wenn sie die Truhe geöffnet haben, und ganz
bestimmt werden sie nicht zimperlich mit dir umgehen.« Sie angelte ihre Dose
mit
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