Gier, Kerstin
meiner Truhe. Vielleicht können Sie mir sagen, wann ich sie
wiederbekomme und warum Sie sie überhaupt haben abholen lassen?«
»Richtig!
Angriff ist die beste Verteidigung«, feuerte Xemerius mich an. »Ich sehe schon
- das hier schaffst du auch ohne mich. Ich flieg dann mal wieder nach Hause
les... äh nach dem Rechten sehen - see you later, alligator, hehe!«
»Ich ...
wir ... Fehlinformation ...«, setzte Mr Marley seinen Lückentext fort.
Mr Whitman
schnalzte ärgerlich mit seiner Zunge. Neben ihm wirkte Mr Marley gleich doppelt
unbeholfen. »Marley, Sie können Mittagspause machen.«
»Jawohl,
Sir. Mittagspause, Sir.« Es hätte nicht viel gefehlt und Mr Marley hätte die
Hacken zusammengeknallt.
»Deine
Cousine hat den Verdacht, dass du im Besitz eines Gegenstandes bist, der dir
nicht gehört«, sagte Mr Whitman, als Marley davongeeilt war, und musterte mich
durchdringend. Wegen seiner schönen braunen Augen hatte er von Leslie den
Spitznamen Eichhörnchen erhalten, aber jetzt war beim besten Willen nichts
Niedliches und Possierliches darin zu erkennen, auch nichts von der Wärme, die
man angeblich in braunen Augen immer findet. Unter seinem Blick verkrümelte
sich mein Widerspruchsgeist ganz schnell in die hinterste Ecke meiner
Persönlichkeit. Plötzlich wünschte ich, Mr Marley wäre dageblieben. Mit ihm
stritt es sich weitaus angenehmer als mit Mr Whitman. Es war so schwierig, ihn
anzulügen, vermutlich lag das an seiner Erfahrung als Lehrer. Aber ich
versuchte es trotzdem.
»Charlotte
fühlt sich wohl ein wenig ausgeschlossen«, murmelte ich mit niedergeschlagenen
Augen. »Sie hat es im Augenblick auch nicht leicht und deshalb erfindet sie
vielleicht Dinge, die ihr wieder ein bisschen ... äh ... Aufmerksamkeit
zusichern.«
»Ja, der
Ansicht sind die anderen auch«, sagte Mr Whitman nachdenklich. »Aber ich halte
Charlotte für eine gefestigte Persönlichkeit, die so etwas nicht nötig hat.« Er
neigte seinen Kopf zu mir, so nah, dass ich sein Aftershave riechen konnte.
»Wenn ihr Verdacht sich doch noch bestätigen sollte ... Nun, ich bin mir nicht
sicher, ob du dir der Tragweite deines Tuns wirklich bewusst bist.«
Tja - da
waren wir wohl schon zu zweit. Es kostete mich eine gewisse Überwindung, ihm
wieder in die Augen zu sehen. »Darf ich denn wenigstens fragen, um welchen
Gegenstand es sich handelt?«, fragte ich zaghaft.
Mr Whitman
zog eine Augenbraue nach oben, dann lächelte er überraschenderweise. »Es
besteht durchaus die Möglichkeit, dass ich dich unterschätzt habe, Gwendolyn.
Allerdings ist das kein Grund für dich, dich selber zu überschätzen!«
Ein paar
Sekunden lang starrten wir einander in die Augen und ich fühlte mich mit einem
Mal sehr erschöpft. Was sollte diese ganze Schauspielerei eigentlich bringen?
Was, wenn ich den Chronografen einfach wieder den Wächtern übergab und den
Dingen ihren Lauf ließ? Irgendwo in meinem Hinterkopf hörte ich Leslie sagen Jetzt reiß
dich gefälligst mal zusammen, aber wozu eigentlich? Ich tappte
doch ohnehin nur im Dunkeln und kam keinen Schritt weiter. Mr Whitman hatte
recht: Am Ende überschätzte ich mich völlig und machte alles nur noch
schlimmer. Ich wusste ja nicht mal genau, wofür ich all diese
nervenaufreibenden Dinge eigentlich auf mich nahm. Wäre es nicht schön, die
Verantwortung abzugeben und Entscheidungen anderen zu überlassen?
»Ja?«,
fragte Mr Whitman mit sanfter Stimme und jetzt trat tatsächlich ein warmer
Glanz in seine Augen. »Willst du mir etwas sagen, Gwendolyn?«
Wer weiß -
vielleicht hätte ich das sogar getan, wenn nicht in diesem Augenblick Mr George
zu uns getreten wäre. Mit den Worten »Gwendolyn, wo bleibst du denn?« hatte er
meinem Schwächemoment ein Ende bereitet. Mr Whitman hatte wieder ärgerlich mit
der Zunge geschnalzt, aber das Thema in Mr Georges Gegenwart nicht mehr
angeschnitten.
Und nun
saß ich hier allein im Jahr 1953 auf dem grünen Sofa und rang immer noch um
meine Fassung. Und um ein bisschen Zuversicht.
»Wissen
ist Macht«, versuchte ich, mich mit zusammengebissenen Zähnen zu motivieren,
und schlug das Buch wieder auf. Lucas hatte aus den Annalen vor allem Einträge
aus den Jahren 1782 und 1912 abgeschrieben, weil das,
liebe Enkeltochter, die für dich relevanten Jahre sind. Im September 1782
wurde die sogenannte Florentinische Allianz zerschlagen und der Verräter im
inneren Kreis der Wächter entlarvt. Obwohl es nicht explizit in den Annalen
steht, können wir davon
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