Gier, Kerstin
entsetzlich langweilig, Charles ist ein
Schwächling und Grace' Nicolas arm wie eine Kirchenmaus.«
»Aber er
macht sie glücklich, und das ist doch die Hauptsache.«
Lady
Arista erhob sich. »Ja, über Nicolas beschwere ich mich ja auch von allen am
wenigsten. Viel schlimmer wäre es, wenn Grace an diesem unsäglichen
de-Villiers-Ehrgeizling hängen geblieben wäre.« Ich sah, wie sie sich
schüttelte. »Allesamt grässlich arrogant, diese de Villiers. Ich hoffe, Lucy
kommt auch noch zur Vernunft.«
»Ich
glaube, Paul schlägt ein bisschen aus der Art.« Grandpa schmunzelte. »Er ist
ein netter Junge.«
»Das
glaube ich nicht - der Apfel fällt nie weit vom Stamm. Kommst du mit hoch?«
»Ich
wollte nur noch ein bisschen lesen .. .«
Ja, und
ein bisschen mit der Enkelin aus der Zukunft plaudern, wenn es denn bitte
ginge. Meine Zeit wurde nämlich knapp. Ich konnte die Uhr von hier aus nicht
sehen, aber ich konnte sie ticken hören. Und war da nicht schon wieder dieses
vermaledeite Schwindelgefühl in meinem Bauch zu spüren?
»Anna
Karenina? Ein so melancholisches Buch, nicht wahr, mein Lieber?«
Ich sah die schlanken Hände meiner Großmutter danach greifen und es einfach
irgendwo aufschlagen. Vermutlich hielt Lucas genau wie ich die Luft an. »Kann man
denn einem anderen überhaupt klarmachen, was man fühlt? Ach,
vielleicht sollte ich es auch noch einmal lesen. Allerdings mit Brille.«
»Zuerst
lese ich es«, sagte Lucas bestimmt.
»Aber
nicht mehr heute Nacht.« Sie legte das Buch wieder auf den Tisch und beugte
sich zu Lucas hinunter. Ich konnte es nicht genau erkennen, aber es sah aus,
als ob die beiden sich umarmten.
»Ich komme
in ein paar Minuten nach, Honigschnütchen«, sagte Lucas, aber das hätte er
besser nicht getan. Bei dem Wort »Honigschnütchen« (Hallo? Er sprach mit Lady Aristal) zuckte ich heftig zusammen, und zwar so, dass mein Kopf gegen die
Schreibtischplatte rumste.
»Was war
das denn?«, fragte meine Großmutter streng.
»Was
meinst du?« Ich sah, wie Lucas' Hand Anna Karenina vom Tisch
wischte.
»Das
Geräusch!«
»Ich habe
nichts gehört«, sagte Lucas, konnte aber nicht verhindern, dass Lady Arista
sich zu mir umdrehte. Ich fühlte förmlich, wie ihre Augen über der herrischen
Nase misstrauisch funkelten.
Und was
jetzt?
Lucas
räusperte sich und versetzte dem Buch einen kräftigen Fußtritt. Es schlitterte
über den Parkettboden auf mich zu und blieb einen halben Meter vor dem
Schreibtisch liegen. Mein Magen krampfte sich zusammen, als Lady Arista einen
Schritt auf mich zumachte.
»Das ist
doch ...«, murmelte sie dabei vor sich hin.
»Jetzt
oder nie«, sagte Lucas und ich nahm an, dass er mich damit meinte. Mit einem
beherzten Griff ließ ich meinen Arm hervorschnellen, schnappte nach dem Buch
und presste es gegen meine Brust. Meine Großmutter stieß einen kleinen
überraschten Schrei aus. Aber bevor sie sich bücken und unter den Schreibtisch
sehen konnte, verschwammen ihre bestickten Pantöffelchen vor meinen Augen.
Zurück im
Jahr 2011, kroch ich mit klopfendem Herzen unter dem Schreibtisch hervor und
dankte Gott, dass das Möbelstück seit 1993 nicht um einen einzigen Zentimeter
zur Seite gerückt worden war. Arme Lady Arista - nachdem sie gesehen hatte, wie
der Schreibtisch Arme bekommen und ein Buch aufgegessen hatte, würde sie
wahrscheinlich noch einen Whisky benötigen.
Ich
hingegen benötigte nur noch mein Bett. Als mir Charlotte im zweiten Stock in
den Weg trat, bekam ich nicht mal mehr einen Schreck - als ob mein Herz
beschlossen hätte, für heute genug Aufregung erlebt zu haben.
»Ich
hörte, du bist schwer krank und musst das Bett hüten.« Sie knipste eine
Taschenlampe an und blendete mich mit gleißend hellem LED-Licht. Dabei fiel mir
auf, dass ich Nicks Taschenlampe irgendwo im Jahr 1993 vergessen hatte. Vermutlich
im Wandschrank.
»Genau.
Offensichtlich hast du mich angesteckt«, sagte ich. »Scheint eine Krankheit zu
sein, bei der man nachts nicht schlafen kann. Ich habe mir was zu lesen geholt.
Und was machst du? Ein bisschen trainieren?«
»Warum
nicht?« Charlotte trat einen Schritt näher und schwenkte den Lichtkegel zu
meinem Buch. »Anna Karenina? Ist das nicht ein bisschen zu
schwierig für dich?«
»Meinst
du? Na, vielleicht tauschen wir dann besser. Ich gebe dir Anna
Karenina und du leihst mir dafür Im
Schatten der Vampirhügel.«
Charlotte
schwieg drei Sekunden lang verdutzt. Dann blendete sie mich wieder mit dem
kalten
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