Gier, Kerstin
Lampenlicht. »Zeig mir, was in dieser Truhe ist, dann kann ich dir
vielleicht helfen, Gwenny. Das Schlimmste abwenden ...« Nanu, sie konnte ja
auch ganz anders sprechen, weich und schmeichelnd, fast ein bisschen besorgt.
Ich schob
mich (mit angespannten Bauchmuskeln) an ihr vorbei. »Vergiss es, Charlotte! Und
bleib meinem Zimmer fern, klar?«
»Wenn ich
richtig liege, dann bist du wirklich noch viel dümmer, als ich gedacht habe.«
Ihre Stimme klang nun wieder wie immer. Obwohl ich damit rechnete, dass sie
mich aufhalten und mir dabei - mindestens - das Schienbein zerschmettern
würde, ließ sie mich gehen. Nur der Schein ihrer Taschenlampe verfolgte mich
noch ein Stück.
Man
kann die Zeit nicht aufhalten,
aber
für die Liebe bleibt sie manchmal stehen.
(Pearl
S. Buck)
7
Als es gegen zehn Uhr an die Tür klopfte, schreckte ich aus
dem Tiefschlaf empor, obwohl es bereits das dritte Mal war, dass ich an diesem
Morgen geweckt wurde. Das erste Mal war um sieben Uhr gewesen, als meine Mum
sich davon überzeugen wollte, wie es mir ging (»Kein Fieber mehr - da zeigt
sich deine zähe Konstitution. Morgen kannst du wieder in die Schule gehen!«).
Das zweite Mal war es eine Dreiviertelstunde später Leslie, die vor der Schule
extra einen Umweg gefahren war, weil ich ihr mitten in der Nacht noch eine SMS
geschickt hatte.
Dass die
SMS nicht nur aus zusammenhangslosem Gestammel bestanden hatte, wunderte mich
noch jetzt, denn ich war quasi besinnungslos vor Angst gewesen und meine Hände
hatten so sehr gezittert, dass ich kaum die Tasten hatte treffen können. Der
einzige Weg in mein abgeschlossenes Zimmer hatte nämlich über den Sims vor
meinem Fenster geführt, geschätzte vierzehn Meter über dem Bürgersteig. Es war
Xemerius' Idee gewesen, in Nicks Zimmer aus dem Fenster zu klettern und mich
auf besagtem Sims mit dem Bauch an der Hauswand entlang zu meinem Fenster zu
schieben. Er selbst hatte nichts zum Gelingen der Aktion beigetragen, außer
»Sieh bloß nicht nach unten!« zu brüllen und »Meine Fresse, ist das tief!«.
Leslie und
ich hatten nur ein paar Minuten Zeit gehabt, dann musste sie zur Schule,
während ich mich weiter dem Tiefschlaf widmete. Bis vor der Tür Stimmen laut
wurden und ein rotblonder Kopf im Türspalt erschien. »Guten Morgen«, sagte Mr
Marley steif.
Xemerius,
der am Fußende meines Bettes gedöst hatte, schrak hoch. »Was macht denn der
Feuermelder hier?«
Ich zog
mir die Decke bis unter das Kinn. »Brennt's?«, erkundigte ich mich wenig
einfallsreich bei Mr Marley. Laut meiner Mutter sollte ich erst am Nachmittag
zum Elapsieren abgeholt werden. Und dann doch auch bitte nicht direkt aus dem
Bett, herrje!
»Also, das
geht nun wirklich zu weit, junger Mann!«, rief eine Stimme hinter ihm. Es war
Tante Maddy. Sie gab Mr Marley einen kleinen Schubs und schob sich an ihm
vorbei in mein Zimmer. »Offensichtlich haben Sie keine Manieren, sonst würden
Sie nicht einfach so in das Schlafzimmer eines jungen Mädchens platzen.«
»Ja, und
ich bin auch noch nicht gesellschaftsfein«, sagte Xemerius und leckte über
seine Vorderpfote.
»Ich .. .
ich«, stotterte Mr Marley, puterrot im Gesicht.
»Das
gehört sich wirklich nicht!«
»Tante
Maddy, halt dich da raus!« Als Dritte tauchte Charlotte auf, in Jeans und
einem giftgrünen Pullover, der ihre Haare leuchten ließ wie Feuer. »Mr Marley
und Mr Brewer müssen nur etwas abholen.« Mr Brewer war offenbar der junge Mann
im schwarzen Anzug, der nun seinen Auftritt hatte. Nummer vier. Allmählich kam
ich mir vor wie in der Victoria Station zur Rushhour. Dabei hatte mein Zimmer
nicht annähernd die passende Quadratmeterzahl.
Charlotte
drängte sich nach vorn, wobei sie ihre Ellenbogen benutzte. »Wo ist die
Truhe?«, fragte sie.
»Petze,
Petze ging in'n Laden!«, sang Xemerius.
»Welche
Truhe?« Ich saß immer noch wie angewurzelt unter meiner Bettdecke. Ich wollte
auch gar nicht aufstehen, weil ich nach wie vor den verdreckten Schlafanzug
trug und Mr Marley diesen Anblick schlicht nicht gönnte. Es reichte, dass er
mich mit verstrubbeltem Haar sah.
»Das weißt
du ganz genau!« Charlotte beugte sich über mich. »Also, wo ist sie?«
Tante
Maddys Löckchen sträubten sich empört. »Niemand rührt die Truhe an«, befahl sie
überraschend herrisch.
Aber an
die Schärfe in Lady Aristas Tonfall reichte es lange nicht heran. »Madeleine!
Ich habe doch gesagt, du sollst unten bleiben.« Jetzt betrat auch meine
Großmutter das
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