Gier, Kerstin
Zitronenbonbons aus der Rocktasche und schob sich fünf auf einmal in den
Mund. »Das halt ich nicht aus.«
»Ganz
ruhig, Tante Maddy!« Ich fuhr mir mit allen zehn Fingern durch die Haare und
grinste sie an. »In der Truhe befinden sich mein Schulatlas und die
Jane-Austen-Gesamtausgabe, die du mir zu Weihnachten geschenkt hast.«
»Oh.«
Tante Maddy rieb sich die Nase und schnaufte erleichtert. »Das habe ich mir natürlich schon
gedacht«, sagte sie, heftig an den Bonbons lutschend. »Aber wo ...?«
»In
Sicherheit, hoffe ich.« Mit einem tiefen Seufzer schwang ich meine Beine über
die Bettkante. »Aber falls sie gleich schon wiederkommen - mit einem
Hausdurchsuchungsbefehl oder so -, sollte ich jetzt vielleicht doch besser
duschen gehen. Übrigens - herzlichen Dank für deinen Rat gestern! Von wegen,
die Räume standen alle leer. Ich bin im Schlafzimmer von Tante Glenda und
Exonkel Charlie gelandet!«
»Ups«,
machte Tante Maddy und verschluckte vor Schreck ein Bonbon.
An diesem
Vormittag bekam ich Charlotte und meine Großmutter nicht mehr zu Gesicht. Ein
paar Mal klingelte in den unteren Stockwerken das Telefon und einmal klingelte
es auch bei uns, es war aber nur Mum, die sich nach meinem Befinden erkundigte.
Später am
Tag kam Tante Maddys Freundin Mrs Purpleplum zu Besuch und ich hörte die beiden
kichern wie zwei kleine Mädchen. Ansonsten blieb es still. Bevor ich am Mittag
abgeholt und nach Temple gebracht wurde, konnten Xemerius und ich uns noch ein
wenig der Lektüre von Anna Karenina zuwenden,
das heißt dem Teil der Lektüre, der nicht von Tolstoi verfasst worden war. Die
Seiten 400 bis 600 waren überwiegend mit Abschriften aus den Chroniken und
Annalen der Wächter gefüllt. Lucas hatte dazugeschrieben: Dies sind
nur die interessanten Teile, liebe Enkeltochter, aber um
ehrlich zu sein, fand ich es zunächst nicht besonders interessant. Die sogenannten Prinzipien zur Beschaffenheit der Zeit, vom Grafen
von Saint Germain persönlich verfasst, überforderten schon nach dem ersten Satz
mein Gehim. Obwohl in der Gegenwart das Vergangene bereits geschehen
ist, muss man alle Vorsicht aufbieten, um das Gegenwärtige nicht durch das
Vergangene zu gefährden, indem man es gegenwärtig macht.
»Verstehst
du das?«, fragte ich Xemerius. »Einerseits ist ohnehin schon alles geschehen
und wird daher auch so geschehen, wie es nun mal geschehen ist, andererseits
darf man niemanden mit Grippeviren anstecken? Oder wie ist das gemeint?«
Xemerius
schüttelte den Kopf. »Das überschlagen wir einfach, ja?«
Aber auch
der Aufsatz eines gewissen Dr. M. Giordano (na, das war doch wohl kein Zufall,
oder?) mit dem Titel Der Graf von Saint Germain -
Zeitreisender und Visionär - Quellenanalyse anhand von Inquisitionsprotokollen
und Briefen, publiziert 1992 in einer Fachzeitschrift für historische
Forschung, begann mit einem über acht Zeilen konstruierten Bandwurmsatz, der
nicht gerade zum Weiterlesen einlud.
Xemerius
schien es genauso zu gehen. »Langweilig!«, krakeelte er und ich blätterte
bereitwillig weiter zu der Stelle, an der Lucas alle Verse und Reime gesammelt
hatte. Ein paar davon kannte ich bereits, aber auch die, die für mich neu
waren, lasen sich verworren, symbolträchtig und vielseitig deutbar, je nach
Betrachtungsweise, ähnlich wie Tante Maddys Visionen. Die Worte Blut und Ewigkeit kamen
überdurchschnittlich oft darin vor, gerne gepaart mit Glut und Leid.
»Also, von
Goethe sind die auf jeden Fall nicht«, meinte auch Xemerius. »Klingt, als
hätten sich da ein paar Besoffene zusammengesetzt, um möglichst kryptisches
Zeugs zu reimen. Hey, lass uns mal überlegen, Leute, was reimt sich denn auf
Fuchs aus Jade? Marmelade, Wade, Made? Nee, nehmen wir doch einfach mal die
Maskerade, das klingt doch, hicks, gleich viel geheimnisvoller.«
Ich musste
lachen. Die Verse waren wirklich das Letzte. Aber ich wusste, Leslie würde sich
voller Freude darauf stürzen, sie liebte Kryptisches über alles. Sie war fest
überzeugt, dass uns die Lektüre von Anna Karenina entscheidend
weiterbringen würde.
»Das ist
der Beginn einer neuen Ära«, hatte sie heute früh dramatisch verkündet und das
Buch in der Luft herumgeschwenkt. »Wer in Besitz von Wissen ist, ist auch im
Besitz von Macht.« Hier hatte sie kurz gestutzt. »Das ist aus einem Film, aber
im Augenblick fällt mir nicht ein, aus welchem. Egal: Jetzt können wir der
Sache endlich auf den Grund gehen.«
Vielleicht
hatte sie recht. Aber als ich
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