Gier, Kerstin
Jahren zusammensuchen konnte
- auch wenn ich immer noch nicht weiß, was genau der konkrete Anlass zu Lucys
und Pauls Flucht mit dem Chronografen sein wird.« Er nahm mir das Buch aus der
Hand und ließ die Seiten durch seine Finger gleiten. »Wir haben Beweise dafür,
dass der Graf den Wächtern ab dem Gründungsjahr wichtige Unterlagen
vorenthalten hat - Prophezeiungen, aus denen hervorgeht, dass der Stein der
Weisen nicht das ist, was er alle glauben machen will.«
»Sondern?«
»Wir sind
uns noch nicht ganz sicher - wir arbeiten daran, diese Unterlagen in unseren
Besitz zu kriegen.« Grandpa kratzte sich am Kopf. »Hör mal, ich habe viel
nachgedacht - natürlich - und mir ist klar geworden, dass ich im Jahr 2011
nicht mehr am Leben sein werde. Höchstwahrscheinlich bin ich gestorben, bevor
du alt genug warst, von mir in alles eingeweiht zu werden.«
Ich wusste
nicht, was ich sagen sollte, aber ich nickte.
Mein
Grandpa lächelte sein wunderbares Grandpalächeln, bei dem sich das ganze
Gesicht in Falten legte. »Das ist nicht schlimm, Gwen. Ich kann dir versichern:
Selbst wenn ich heute sterben müsste, wäre ich nicht traurig - ich hatte ein
tolles Leben.« Die Lachfältchen vertieften sich. »Es ist nur schade, dass ich
dir in deiner Zeit nicht mehr helfen kann.«
Ich nickte
wieder und kämpfte schwer mit meinen Tränen.
»Ach, komm
schon, kleiner Rabe. Du müsstest doch am besten wissen, dass der Tod zum Leben
dazugehört.« Lucas tätschelte meinen Arm. »Man sollte allerdings denken, dass
ich wenigstens den Anstand hätte, nach meinem Tod als Geist in diesem Haus
herumzuspuken. Du könntest ja nun wirklich etwas Unterstützung gebrauchen.«
»Ja, das
wäre schön«, flüsterte ich. »Und schrecklich zugleich.« Die Geister, die ich
kannte, waren nicht besonders glücklich. Ich war davon überzeugt, dass sie
lieber an einem anderen Ort gewesen wären. Keiner von ihnen war gern ein Geist.
Die meisten glaubten ja noch nicht mal, dass sie tot waren. Nein, es war gut,
dass Grandpa nicht dazugehörte.
»Wann
musst du zurück?«, erkundigte er sich.
Ich sah
zur Uhr hinüber. Gott, dass Zeit so schnell vergehen konnte! »In neun Minuten.
Und ich muss in Tante Glendas Schlafzimmer elapsieren, weil ich den Raum in
meiner Zeit von innen abgeschlossen habe.«
»Wir
könnten versuchen, dich einfach ein paar Sekunden vorher ins Zimmer zu
schieben«, sagte Lucas. »Du würdest verschwinden, bevor sie richtig begreifen
würden ...«
In diesem
Augenblick klopfte es an die Tür. »Lucas, bist du dort drinnen?«
»Versteck
dich!«, zischte Lucas, aber ich hatte schon reagiert. Mit einem waghalsigen
Sprung hechtete ich unter den Schreibtisch, gerade rechtzeitig, bevor sich die
Tür öffnete und Lady Arista hereinkam. Ich konnte nur ihre Füße sehen und den
Saum ihres Morgenmantels, aber ihre Stimme war unverkennbar.
»Was
machst du denn mitten in der Nacht hier unten? Und sind das etwa
Thunfisch-Sandwiches? Du weißt doch, was Dr. White gesagt hat.« Sie ließ sich
mit einem Seufzer auf dem von mir angewärmten Sessel nieder. Jetzt war sie bis
knapp zu den Schultern im Bild, die sie wie immer kerzengerade hielt. Ob sie
wohl auch einen Teil von mir sehen würde, wenn sie den Kopf drehte?
Sie
schnalzte mit der Zunge. »Charles kam eben zu mir. Er behauptet, Glenda würde
ihm mit Schlägen drohen.«
»Oje«,
sagte Lucas, der erstaunlich gelassen klang. »Der arme Junge. Was hast du
gemacht?«
»Ich hab
ihm ein Glas Whisky eingeflößt«, antwortete meine Großmutter und kicherte.
Ich hielt
den Atem an. Meine Großmutter kicherte? Das hatte ich noch nie gehört. Wir
wunderten uns schon immer, wenn sie lachte, aber Kichern gehörte in eine ganz
andere Liga. Das war in etwa, als würde man eine Wagner-Oper auf der
Blockflöte nachspielen. »Und dann hat er angefangen zu weinen!«, sagte meine
Großmutter verächtlich. Das klang schon eher wieder nach Lady Arista.
»Woraufhin ich ein Glas Whisky trinken musste.«
»Das ist
mein Mädchen.« Ich hörte, dass mein Großvater lächelte, und plötzlich wurde
mir ganz warm ums Herz. Die beiden sahen glücklich miteinander aus. (Na ja,
jedenfalls vom Hals abwärts.) Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich eigentlich
keine richtige Vorstellung von ihrer Ehe gehabt hatte.
»Zeit,
dass das Haus von Glenda und Charles endlich fertig wird«, sagte Lady Arista.
»Kann es sein, dass unsere Kinder kein besonders gutes Händchen bei der
Partnersuche haben? Harrys Jane ist
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