Gier
hinunter und angelte sich einen kleinen Notizblock sowie zwei Stifte, einen Bleistift und einen Kugelschreiber. Alle drei Gegenstände trugen den Namen des Hotels und dessen stilvolles Logo. Das Papier war relativ grobfaserig, dezent blaugrün, und man konnte eine schwache Linierung erkennen.
Wie ein altmodischer Detektiv begann Paul Hjelm die Oberfläche des Papiers mit dem Bleistift zu schraffieren. Neben einigen undefinierbaren Zeichen, die sukzessive sichtbar wurden, lieà sich schlieÃlich eine deutliche Zeile erkennen. Dort stand: »An die operative Einheit, Europol.«
Plötzlich hatte Hjelm das Gefühl, an ihrer Stelle zu sein. Erst jetzt spürte er die Verzweiflung ihrer Handschrift, diese zielgerichtete Verzweiflung.
Sie ist eine vollkommen gesunde und durchtrainierte Frau um die fünfunddreiÃig, hellhäutig, mittelblond, einen Meter zweiundsiebzig groà und achtundfünfzig Kilo schwer.
Ariadne.
Und sie weiÃ, was sie erwartet. Sie wird verfolgt, intensiv verfolgt, und sie weiÃ, dass ihre Verfolger vor nichts zurückschrecken. Sie sieht sich in dem klaustrophobisch engen Hotelzimmer um. Sie atmet heftig, steht auf, macht ein paar Schritte im Zimmer und kommt zu einer Einsicht. Ihr wird klar, dass das Risiko besteht, gefoltert und getötet zu werden. Also muss sie irgendwo einen Hinweis verstecken, eine Botschaft, die sie selbst zu überleben vermag. Sie erinnert sich daran, von einer neuen polizeilichen Einheit gehört zu haben, die sich mit internationaler Kriminalität befasst. Europäischer Kriminalität. Sie hat eine oder mehrere Mitteilungen an die »operative Einheit, Europol« im Internet versteckt. Sie sind wichtig. Sie sind so wichtig, dass sie beim Anblick des halbsteifen Plastikrohrs, mit dem man den Winkel der Jalousie justiert, weiÃ, was sie tun muss. Mit ihrem annähernd stumpfen Taschenmesser kappt sie ein gutes Stück von dem Plastikrohr am Fenster. Davon schneidet sie sich das wenige Zentimeter lange Röhrchen zurecht. Vielleicht braucht sie mehrere Versuche. Dann dreht sie sich zum Nachttisch um und schreibt rasch zwei Codes, »e98weriN« sowie »79sYsd76«, in jeweils eine Zeile auf den Notizblock. Sie reiÃt den Zettel ab, nachlässig, sodass das Hotellogo nicht mehr auf dem Papier zu sehen ist. AnschlieÃend dreht sie den Zettel um, schreibt den Adressaten auf die andere Seite, rollt ihn zusammen, schiebt ihn in das Plastikröhrchen und betrachtet es. Im Hinblick darauf, wo sie es verwahren will, muss der Zettel geschützt werden. Mit zitternden Fingern schneidet sie zwei weitere Stücke von der Kunststoffstange ab, die sie als Korken verwenden kann. Sie schiebt die Korken in die Enden des Röhrchens und betrachtet ihr Werk. Die Ränder dürfen nicht unregelmäÃig oder zu scharf sein. Dann befeuchtet sie das Röhrchen mit ihrem Speichel. Sie zieht ihren Slip herunter und führt es sich langsam in den After ein. Als sie spürt, dass es an der richtigen Stelle sitzt, macht sie sich auf den Weg.
Aber woher kommt sie? Wohin ist sie unterwegs?
Wohin hat sie vor zu gehen, als sie an diesem Donnerstag oder Freitag Anfang April das Hotel verlässt?
An einem der Tage, an denen der London Summit beginnt.
Paul Hjelm spürte, wie er die Augen öffnete. Also musste er sie irgendwann geschlossen haben. Er stellte fest, dass Corine Bouhaddi ebenfalls die Augen aufschlug. Er sah ihr an, dass auch sie für einen Moment Ariadne gewesen war. In einer anderen Situation hätte er gelächelt und gespürt, wie ihm warm ums Herz wurde. Aber die Situation war nicht danach. Er begegnete dem ernsten Blick aus ihren dunkelbraunen Augen.
Sie sagte: »London Summit.«
Paul Hjelm nickte und entgegnete: »Twitter.«
Bouhaddi lachte auf und fragte: »Glaubst du wirklich, dass es so gewesen sein könnte?«
Hjelm streckte den Nacken, sodass es knackte. Dann sagte er: »Ariadne wurde am Sonntagmorgen aufgefunden. Sie starb am Samstagabend gegen einundzwanzig Uhr. Davor war sie viele Stunden lang geschlagen worden und hatte seit mehr als zwölf Stunden nichts mehr gegessen. Also kann sie durchaus am Donnerstagvormittag das Hotel verlassen haben. Am Abend zuvor hat sie eine Twitter-Meldung gesehen, wonach Barack Obama an der südlichen Absperrung aus seiner Limousine steigen und die Menge begrüÃen würde. Genau wie Zhang Sang hat sie all ihre Hoffnungen in Obama
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