Gier
aber cool. Ich wusste gar nicht, dass Kyle Kinder hat.«
Zugleich dachte er: Alphabet City. Dead Letter. Es muss sich um eine örtliche Band handeln. Sie haben im Hunkies gespielt, bestimmt auch irgendein Lokal im Ort. Jetzt nur nicht zu viel fragen. Keine Polizeifragen stellen.
»Geteiltes Sorgerecht«, erklärte die Mutter und verschüttete etwas Cappuccino auf der Latzhose des unbändigen Dreijährigen, nahm aber keinerlei Notiz von dem Fleck. »Er holt sie jede zweite Woche ab. In der anderen Woche übernimmt es die Mutter. Glaube ich zumindest.«
»Wissen Sie, wo er wohnt?«, fragte er so beiläufig wie möglich.
In dem Moment zog der Dreijährige die Tischdecke vom Tisch, woraufhin ein ziemliches Chaos entstand. Kowalewski kam ohne Flecken davon, sah jedoch ein, dass die Fragestunde beendet war. Er schlich sich unbemerkt von dannen.
Ein paar StraÃenzüge weiter fand er ein versifftes Internetcafé. Er setzte sich an einen Computer mit speckiger, klebriger Tastatur. Die kleine Kabine, in der er saÃ, kam ihm regelrecht verseucht vor, als er sich in den klinisch sauberen Cyberspace einwählte. Das Hunkies hatte er schnell gefunden. Es war, wie er vermutet hatte, eine Kneipe in Alphabet City. Die Website sah aus, als wäre sie vor der Jahrtausendwende erstellt worden, aber immerhin gab es einen Konzertplan, der mehrere Jahre zurückreichte. Er fand einen Auftritt von Dead Letter im November des vergangenen Jahres.
Ãber die Band selbst gab es im Netz eine ganze Menge Informationen. Einem Artikel in einem Fanzine zufolge war die Indieband Dead Letter im »unteren Manhattan« zu Hause und hatte sich nach einer alten LP benannt, für die R.E.M. einige B-Seiten ihrer Singles zusammengestellt hatte. Sie hieà Dead Letter Office . Das Wort »Dead Letter« hatte genau genommen zwei Bedeutungen. Zum einen handelte es sich um Briefe, die ihren Adressaten nicht erreichen, zum anderen um Gesetze, die auÃer Kraft gesetzt wurden, also tote Gesetze â oder tote Buchstaben. Ein einfallsreicher Name für eine Band aus Alphabet City.
Dead Letter hatte zwei Gitarristen, von denen einer den Angaben auf der MySpace-Website der Band zufolge Kyle Ritchie hieÃ. Es gab ein paar Gruppenfotos, und Kowalewski merkte sich sein Gesicht. Kyle war in der Tat jung, trug einen Vollbart und war Gitarrist. Und er sah zweifellos ziemlich gut aus.
Dann rief er das Telefonbuch von New York auf, die White Pages. Kein Kyle Ritchie in Manhattan. Kein einziger Treffer. Die Band war zu unbedeutend, um ein eigenes Plattenlabel zu haben, also hatte Kowalewski keinerlei Anhaltspunkte auÃer einigen MP3-Dateien im Internet. Er stellte die Lautstärke leise und hörte sie sich an. Die Musik war zweifellos krawallig. Und so schlecht, dass Kyle Ritchie höchstwahrscheinlich auf einen Ganztagsjob angewiesen war. Kowalewski schöpfte bereits Hoffnung, als ihm einfiel, dass heute Samstag war.
Er suchte bei Google. Die Zeit verging.
Aber er landete ein paar Treffer, darunter bei Facebook. Das Problem war, dass es mehrere Mitglieder mit dem Namen Kyle Ritchie gab. Marek Kowalewski war ebenfalls Mitglied bei Facebook. Weil er sich nicht ganz sicher war, ob sich das mit seinem Berufsleben vereinbaren lieÃ, hatte er in Den Haag seinen Account bisher nicht benutzt. Aber jetzt könnte ihm genau das weiterhelfen. Es gab zehn Kyle Ritchies auf Facebook. Allein vier von ihnen hatten Profile und Fotos, die zumindest einigermaÃen an den Gitarristen von Dead Letter erinnerten. Kowalewski schaute sich daraufhin ihre Freundeskreise näher an, um herauszufinden, ob ein anderes Bandmitglied darunter war. Er fand nichts. Auf keiner der Seiten der vier Kyle Ritchies gab es irgendwelche Hinweise für ihn.
Er fragte alle vier, ob sie einen gut gelaunten Polen, der auf Indiepop â insbesondere auf eine New Yorker Band namens Dead Letter â stand, zum Freund haben wollten. Und er fragte sie, ob sie möglicherweise ein Gitarrist der Band Dead Letter seien.
Einer von ihnen war gerade eingeloggt und chattete. Dieser Kyle Ritchie akzeptierte den »gut gelaunten Polen« als Facebook-Freund, fragte aber als Erstes, was Indiepop überhaupt sei. Die übrigen Kyle Ritchies waren offline.
Kowalewski suchte fieberhaft weiter im Internet. Es war wie verhext. Nach einer Stunde tauchte ein anderer der kontaktierten Kyle Ritchies bei Facebook auf. Er schrieb kurz und bündig:
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