Gier
Söderstedt.
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London, 11. April
Der Londoner Hafen war einmal der gröÃte weltweit. Das ist noch gar nicht so lange her. Doch als der Sturm der Veränderung aufkam, waren seine Auswirkungen sofort spürbar. Ein Orkan brach über den Osten von London herein und zog eine unübersehbare Grenze zwischen Vorher und Nachher. Und das lag an den Containern.
Plötzlich wurden sämtliche Güter der Welt, die von weit her kamen, in Containern verfrachtet. Das bedeutete, dass gröÃere Schiffe gebaut werden mussten. Die konnten jedoch nicht mehr auf der Themse fahren. Der Londoner Hafen verödete. Zwischen 1960 und 1980 schlossen alle Londoner Teilhäfen, und im Osten der Stadt entstand ein nahezu berlinerisches Niemandsland mit hoher Arbeitslosigkeit und enormen sozialen Problemen.
Das machte sich in einer Weltstadt allerdings nicht gerade gut. Vor allem nicht so nahe an der Innenstadt. Insbesondere nicht während der Thatcher-Ãra, der Blütezeit des Neoliberalismus und dem Ursprung unseres jetzigen Zeitalters. Der Baron, Geschäftsmann und Umweltminister Michael Heseltine gründete Anfang der Achtzigerjahre die London Docklands Development Corporation, und die LDDC begann, das heruntergekommene Hafengelände wieder zu erschlieÃen. Es wurden Luxuswohnungen errichtet und die bisherigen Bewohner trotz lautem Protest vor die Tür gesetzt. Man errichtete eine »Enterprise Zone«, innerhalb deren Grenzen GroÃunternehmen keine Grundsteuer entrichten mussten und mit einem ganzen Paket von Steuererleichterungen versehen wurden. Der gigantische Finanzdistrikt Canary Wharf entstand, eine U-Bahn-Linie wurde gebaut und das waghalsige Projekt London City Airport in Angriff genommen. Als LDDC nach einem dramatischen halben Jahrzehnt schlieÃlich absprang, waren die Londoner Docklands bereits ein Faktum.
Das Taxi kam aus südlicher Richtung. Als Paul Hjelm den Fahrer plötzlich bat, etwas langsamer zu fahren, warf ihm Corine Bouhaddi einen fragenden Blick zu. Es war nicht der erste seit Chislehurst. Er war einfach nicht dazu gekommen, ihr die gesamte Ariadne-Geschichte zu erzählen. SchlieÃlich hatte er es aufgegeben. Sie wirkte eingeschnappt und blickte sich verstohlen um. Und jetzt auch noch das.
»Hier war es«, sagte Hjelm und deutete auf die nichtssagende StraÃe. »Genau hier wurde unser Tibeter überfahren, hier stand Arto Söderstedt, bevor er im Schersprung über die Absperrung sprang. Hier starb Zhang Sang. Und dort«, fuhr er fort und wies dabei auf einen riesigen Betonkoloss unten an der Themse, »dort liegt das ExCeL Exhibition Centre, wo die Oberhäupter der zwanzig reichsten Länder der Welt vor gut einer Woche über die Finanzkrise diskutiert haben.«
»Die G20-Länder.« Bouhaddi nickte. »Ãffentliche Gelder sind heutzutage nur noch dafür da, private Finanzinstitute zu unterstützen, die eine waghalsige Transaktionspolitik betreiben.«
Plötzlich hörte Hjelm Klaviertöne; sie strahlten regelrecht von oben nach unten in seinen Körper aus. Premonition â Vorwarnung, Vorzeichen, Vorgefühl, Vorahnung. Er erschauderte.
In dem Moment erhielt Corine Bouhaddi eine SMS. Ihr Handy gab einen Summton von sich. Sie überflog die Mitteilung und reichte dann Hjelm den Apparat, der laut las: »Muss leider unseren Termin absagen. Mir ist eine wichtige Besprechung dazwischengekommen. So ist nun mal das Leben in der Sicherheitsbranche. Ich melde mich wegen eines neuen Termins. Es tut mir leid, und ich hoffe, Sie haben Verständnis. Ray Hammett, Sicherheitschef, Asterion Security Ltd.«
»Aha«, sagte Corine Bouhaddi. »Kam das unerwartet?«
»Nicht ganz, oder?«, meinte Paul Hjelm, während das Taxi in die Docklands einbog.
»Ist dir das eigentlich auch schon aufgefallen?«, fragte Bouhaddi, den Blick hinaus auf die Themse gerichtet.
»Was denn?«, fragte Hjelm.
»Bei unseren Fällen gibt es keine Schurken.«
Hjelm blinzelte und lieà ihre Bemerkung auf sich wirken.
»Wie meinst du das?«, fragte er dann.
»Es gibt jede Menge Verbrechen, aber keine Verbrecher.«
»Ich habe gerade etwas Ãhnliches gedacht«, gestand Paul Hjelm. »Das Einzige, was wir sehen, sind die Opfer. Und da zähle ich Mark Payne ebenso dazu.«
»David Coleman hingegen ist ein Verbrecher«, sagte Bouhaddi, »aber er ist verschwunden. In Den Haag haben sie
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