Gier
doch dann zögerte er nicht, die Umarmung seines Kollegen zu erwidern. Vielleicht sah er ihn zum letzten Mal.
Chavezâ Ãberlegungen beruhten auf der Tatsache, dass es nur sehr wenige Menschen gab, die ein Todesurteil der italienischen Mafia überlebt hatten. Die Minderheit, die noch am Leben war, war irgendwo untergetaucht und fristete ein schwer zu ertragendes mobiles Dasein ohne feste Bezugspunkte. Keiner von ihnen war je an den Ort zurückgekehrt, an dem er zum Tode verurteilt wurde. Keiner auÃer Fabio Tebaldi. Chavez drückte ihn etwas fester und lieà ihn dann gehen.
Die Umarmung zwischen Laima Balodis und Lavinia Potorac war auch nicht gerade von offener Herzlichkeit geprägt, was allerdings einen etwas komplizierteren Grund hatte. Wie es bei Frauen eben manchmal ist. Zumal bei zwei Frauen in einer Männerdomäne. Potorac, die vor Kurzem Mutter geworden war und ganz und gar nichts dagegen hatte, ihrer Umwelt ihre Stärke zu demonstrieren, wusste, dass die deutlich zurückhaltendere Balodis Dinge erlebt hatte, die ihre eigenen Erfahrungen in Bukarest weit in den Schatten stellten. Laima Balodis verlor selbstverständlich nie ein Wort darüber, doch diejenigen, die davon wussten, begegneten ihr immer mit besonderem Respekt. Sie war als Informantin in der russisch-litauischen Mafia unter dem denkbar gewagtesten Deckmantel durch die Hölle gegangen, und Lavinia Potorac war ganz einfach neidisch. Balodis hingegen machte nicht viel Aufhebens von sich. Sie hatte eine Art Pakt mit Miriam Hershey geschlossen, aus dem Potorac nicht ganz schlau wurde und sich ausgeschlossen fühlte. AuÃerdem war sie auÃerstande, in Balodisâ baltische Seele zu schauen. Sie hatte keine Ahnung, was sich dort abspielte.
Sie wechselten über Kreuz, um sich alle vier zu verabschieden. Die nun folgenden Umarmungen waren etwas distanzierter, weniger aufgeladen. Dann trennten sie sich. Tebaldi und Potorac machten sich auf den Weg. Balodis und Chavez spielten weiter. Nach nordischen Regeln. Ohne unnötige Worte zu wechseln.
Bis die Lautsprecherdurchsage in Schiphol ertönte:
Baltic Air, 14Â :15 Uhr zum StarptautiskÄ lidosta RÄ«ga.
Schweigend gingen Balodis und Chavez zum Gate.
In Süditalien war wirklich bereits Hochsommer. Sie bekamen fast einen Schock, als sie aus dem Flugzeug stiegen, obwohl sie beide Südeuropäer waren. Es geht verdammt schnell, dass man seine Herkunft vergisst, dachte Lavinia Potorac. Sie hatte sich während des Fluges viele Gedanken gemacht, scheinbar hatte die Umarmung mit Balodis so einiges in ihr ausgelöst. Sie umarmte nur selten jemanden â abgesehen von ihrem Ehemann Dumitru und ihrer ein paar Monate alten Tochter Nadia.
Hin und wieder hatte sie Fabio Tebaldis muskulösen Körper auf dem Nachbarsitz in Augenschein genommen, und ihr war klar geworden, wie wenig attraktiv sie diese Sorte Männer fand. Zwischen ihnen herrschte eher eine Art Seelenverwandtschaft. Beide wollten um jeden Preis der Mafia einen Schlag versetzen. In Tebaldis Zielstrebigkeit erkannte sie sich selbst so gut wieder â und er offenbar in ihrer, sonst hätte er sie nie als Partner gewählt. Die Tatsache, dass Lavinia Potorac nicht von der Drogenmafia unten am Schwarzen Meer zum Tode verurteilt worden war, schmälerte das Gefühl der Gleichheit natürlich â aber auch wenn die rumänische Mafia zu nicht ganz so rabiaten Mitteln griff wie die italienische, konnte sie bisweilen mindestens ebenso gefährlich sein.
Während des Flugs hatten sie nicht gerade viele Worte gewechselt, und als sie in den kurzen sonnigen Abschnitt zwischen der Gangway und dem wartenden Flughafenbus hinaustraten, hatte die verbale Kommunikation zwischen ihnen den Nullpunkt erreicht. Doch die innere war absolut intakt.
Donatella hieà mit Nachnamen Bruno und fuhr mit ihnen in Richtung Süden. Sie war alleine gekommen. »Bist du ganz sicher, dass du nicht einige von deinen ehemaligen Kollegen unten in San Luca einweihen willst?«, fragte sie, als die Verkehrssituation endlich eine Unterhaltung zulieÃ. Da befanden sie sich bereits auf der Autobahn in Richtung Süden.
»Einer hat mich damals im Stich gelassen«, antwortete Tebaldi kurz angebunden. »Ich kann mich nicht auf sie verlassen.«
Lavinia Potorac saugte die spärlichen Informationen förmlich in sich auf. Sie spürte, dass sie Tebaldi in- und auswendig kennenlernen musste,
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