Gier
einfach auflösen. Sterben.
Wang Yunli lehnte ihren Kopf schwer gegen Saras Schulter. Diese spürte, wie der Stoff ihrer Jacke immer feuchter wurde. SchlieÃlich konnte sie ihre eigenen Tränen nicht mehr zurückhalten. Es ging einfach nicht.
»Mein Sohn wurde einmal gekidnappt«, sagte plötzlich Kerstin Holm vom Fahrersitz aus. »Er wurde von seinem Vater gekidnappt. Erst in dem Moment habe ich akzeptiert, dass der Junge einen Vater hat. Sie sind eine weitaus bessere Mutter gewesen als ich, Yunli. Und ich werde dafür sorgen, dass sich alle nur erdenklichen Energien auf Hästhagen konzentrieren. So viel kann ich Ihnen versprechen.«
Wang Yunli hob ihren Kopf von Sara Svenhagens Schulter und sagte: »Sie sind nicht tot. Das spüre ich.«
Sie liefen durch die Korridore im Polizeigebäude auf Kungsholmen. Sie waren unterwegs zur Abteilung für Kinderpornografie des Reichskriminalamts. Plötzlich blieb Kerstin Holm stehen und sagte: »Wir benötigen die Ermittlungsunterlagen.«
Sie bogen seitlich in einen Korridor ab. Dann gingen sie durch eine Tür, die mit dem Namensschild »Sara Svenhagen / Jorge Chavez, Europol« versehen war, und erreichten die Tür, auf der »Kerstin Holm, Europol« stand.
Kerstin öffnete die Tür und trat ins Büro. Dass die Ordnung auf ihrem Schreibtisch einiges zu wünschen übrig lieÃ, war ihr ziemlich egal. Es standen weitaus wichtigere Dinge an. Sie kramte und wühlte in riesigen Papierstapeln.
Sara Svenhagen und Wang Yunli blieben in der Türöffnung stehen. Wang Yunlis Blick fiel auf die Wand, an die der gesamte umfangreiche Fall geheftet war. Sara überlegte, wie das elektronische Whiteboard in Den Haag wohl aussah. Sie betrachtete die angepinnten Fotografien, die auf halb acht hängenden Post-it-Zettel in rosa, gelb und blau und die langen, nachlässig gezogenen Pfeile auf zusammengeklebten DIN-A4-Papieren, die alles miteinander verbanden. Okay, das Ganze war noch nicht zu hundert Prozent aktualisiert worden, aber vermutlich vermittelte es ein relativ adäquates Bild von dem komplexen aktuellen Fall. Oder eigentlich den Fällen.
»Aber ...«, rief Wang Yunli aus und deutete auf die Wand.
»Was denn?«, fragte Sara Svenhagen.
Wang Yunli ging näher heran. Kerstin Holm blickte von ihren Papierstapeln auf. Sara Svenhagen wollte Wang Yunli aufhalten, aber Kerstin machte eine beschwichtigende Geste.
Wang Yunli stand vor den beiden Fotos der Leichen aus London. Vor dem abschreckenden Bild mit dem aufgequollenen Gesicht von Ariadne schien sie nicht im Mindesten zurückzuweichen. Aber sie konzentrierte sich auf das posthum digital wiederhergestellte Gesicht von Zhang Sang.
Sie zeigte darauf und sagte: »Aber das ist doch Sonam.«
»Wie bitte?«, fragte Kerstin Holm. »Welcher Sonam?«
»Sonam Phuntsok«, antwortete Wang Yunli. »Er sieht nicht gerade aus, als würde es ihm besonders gut gehen.«
Ausblicke
London â Porthtowan, Cornwall, 12. April
Vielleicht hing es damit zusammen, dass sich die Dunkelheit immer deutlicher ausbreitete, denn das, was er sah, als er die Tür einen Spaltbreit öffnete, erfüllte ihn innerlich mit einer sanften Wärme. Dabei war es eine höchst alltägliche Situation â abgesehen von der Tatsache, dass sie sich in einem Krankenhaus abspielte und die Folge eines Schussdramas mitten im stark gesicherten Polizeihauptquartier war. Doch die Szene an sich war alltäglich. Sie strahlte das Licht aus, das wir alle bemüht sind, in unseren Alltag zu bringen, wie die Welt um uns herum auch aussehen mag.
Es war Doktor Hazel Mallorys Lächeln, als Ralph Dryden die Augen aufschlug.
Sie saà in ihrem weiÃen Kittel an seiner Bettkante. Er lag mit seiner weiÃen Bandage im Bett. Der Verband bedeckte seinen gesamten Oberkörper.
Neben dem Bett stand ein Respirator. Er war abgeschaltet, er wurde nicht länger benutzt. Chief Inspector Ralph Dryden vom Metropolitan Police Service, besser bekannt als Scotland Yard, atmete inzwischen wieder vollständig aus eigener Kraft.
Paul Hjelm linste heimlich durch den Türspalt. Und verspürte keinerlei Scham dabei. Er sah, wie Hazel Mallorys Hand sachte über Ralph Drydens Wange glitt. Und er sah, wie sich über sein angespanntes Gesicht allmählich ein Lächeln ausbreitete.
»Ralphie«, sagte Mallory zärtlich.
»Hazel«, erwiderte Dryden
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