Gier
Kind, während sie innerlich vor Glück hätte zerspringen können. An der linken Hand hielt sie Cheng, an der rechten Shuang. Sie waren wieder vereint.
Wie in einer Zeitmaschine.
Denn als sie auf der anderen Seite die Drehtür wieder verlieà und die Abflughalle des Arlanda-International-Flughafens betrat, war sie wieder vollkommen allein.
Sie blieb vor der Drehtür stehen. Viel zu dicht davor. Die anderen Leute beschimpften sie, traten ihr in die Hacken. Aber sie war auÃerstande, sich zu bewegen.
Vor ihrem inneren Auge sah sie wieder die Schaukeln auf dem Schulhof in Bengbu. Einmal war Cheng ganz oben, das andere Mal Shuang. Die Stimmen der Zwillinge vermischten sich miteinander. Als Cheng ganz oben war, hörte sie seine Stimme, als Shuang ganz oben war, seine. Ein merkwürdiger spukähnlicher Wechselgesang erfüllte ihr Inneres.
Sie begriff, dass es dieser Gesang war, den sie im Augenblick ihres Todes hören würde.
Sie ging auf die groÃe Informationstafel zu. Las die Rubrik »Abflüge« durch. SchlieÃlich fand sie, was sie suchte. Dass sie immer noch die Frechheit haben, die Stadt Peking zu nennen, dachte sie.
Sie fand den richtigen Schalter. Air China. Davor hatte sich eine lange Schlange gebildet. Sie stellte sich hinten an.
Vor ihr standen zwei Frauen. Sie sah lediglich ihre Nacken. Die kleinere der beiden war möglicherweise Chinesin, denn ihr Haar war asiatisch schwarz. Aber die gröÃere war definitiv Europäerin. Sicher Schwedin. Sie hatte kurzes blondes Haar.
Ihre Alarmglocken läuteten viel zu spät.
Sie drehten sich um.
»Kennen Sie uns noch?«, fragte die Kleinere der beiden.
»Sara Svenhagen«, stellte sich die GröÃere vor und deutete dann auf die Kleinere: »Und Kerstin Holm.«
Wang Yunli lachte. Sie lachte laut und lange. Dann sagte sie auf Schwedisch: »Ja, ich kenne Sie noch.«
Sie begannen mit der Vernehmung bereits im Auto. Als sie einmal losgelegt hatte, war Wang Yunli, die nun ein unerwartet klares Englisch sprach, kaum mehr zu bremsen. Sara Svenhagen, die zusammen mit ihr auf der Rückbank saÃ, schaltete ihr Handy ein und nahm den überwiegenden Teil des Gesprächs auf.
»Ich gehöre einer Menschenrechtsorganisation an«, erklärte Wang Yunli. »China ist in der heutigen Zeit ein kompliziertes Land. Aber das wissen Sie ja bestimmt. Wir verkörpern den Traum des Kapitalismus.«
»Unendliche Massen an Konsumenten, freier Spielraum für das Kapital, keine demokratischen Störfaktoren«, fügte Kerstin Holm vom Fahrersitz aus an.
»Aber immer mehr Menschen wollen das ändern«, sagte Wang Yunli. »Alles, was wir wollen, ist die Einhaltung der Menschenrechte und die staatliche Kontrolle über das Kapital anstatt über die Bürger. Und auf lange Sicht Demokratie.«
»Und aus diesem Grund haben Sie sich bei Carl-Henric Stiernmarck als schwarzarbeitende Putzfrau ausgegeben und in seinem Computer nach Kinderpornografie gesucht?«, fragte Sara Svenhagen, der es gelang, das gesamte Auto vor Skepsis erzittern zu lassen.
»Das hatte eher persönliche Gründe«, antwortete Wang Yunli.
»Inwiefern?«
»Erinnern Sie sich noch an den Herbst 2005 in Schweden?«
»Natürlich tun wir das. Meinen Sie etwas Spezielles?«
»Aha«, sagte Kerstin Holm vom Fahrersitz aus. »Die chinesischen Kinder. Ich hatte die ganze Zeit schon das Gefühl, dass es einen Zusammenhang geben könnte.«
»Plötzlich kamen massenweise chinesische Kinder allein nach Schweden«, sagte Wang Yunli. »Schweden wurde als Tor zum Schengengebiet genutzt, da man davon ausging, dass das Land eine weniger strenge Grenzüberwachung durchführte. Die Berichte glichen einander auf erstaunliche Weise. Alle Kinder tischten exakt dieselbe Geschichte über ihre Eltern auf, die gestorben waren, und das wenige Gepäck, das sie bei sich hatten, bestand aus genau den gleichen Dingen. Die gleichen Taschen, die gleiche Kleidung, die gleichen Spielsachen, die gleichen Handys. Alles deutete auf eine Form von organisiertem Menschenhandel hin. Aber es gab niemanden, den man vernehmen konnte. Die Kinder verschwanden plötzlich spurlos. Daran erinnern Sie sich doch bestimmt, oder?«
»Selbstverständlich«, antwortete Kerstin Holm. »Das Ganze war ein absolutes Rätsel. Wir haben es nur leider nicht lösen können.«
»Die Organisation hat es
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