GIERIGE BESTIE
Fachmann dazu veranlassen könnte zu meinen, es sei nicht derselbe Täter.
Ein Mann, der immerhin 17 andere Menschen umgebracht hatte und sich tage-, teilweise wochenlang mit den toten Körpern beschäftigt hatte, indem er sie in seiner Wohnung drapierte, fotografierte und große Anstrengungen unternahm, seine Opfer in symbolische Haltungen zu bringen, um für sich daraus noch persönliche Befriedigung zu erhalten, gab mir dazu ein groteskes Beispiel. Er teilte mir mit, dass seine Maximalphantasien, was er mit seinen Opfern tun wollte, schon längst ausgeprägt waren. Bis in das kleinste Detail wusste er Bescheid, was wann wie zu geschehen habe. Aber seine Maximalphantasie, seine Phantasien im Allgemeinen waren immer größer als die Realität. Sie waren weiter fortgeschritten, ausgereifter und deckten sich selten, ja eigentlich gar nie mit dem, was schlussendlich beim Verbrechen selbst geschah. Er verglich es in seiner hochkomplexen Art der ‚abnormalen Normalität‘ mit einer Weihnachtsfeier und ließ mich wissen: „Sehen Sie, Herr Müller, Sie wollen Weihnachten immer am 24. Dezember feiern und möchten, dass es immer gleich schön ist. Sie wollen Geschenke verteilen, Sie wollen strahlende Kinderaugen sehen, Sie wollen, dass die Kerzen zum richtigen Zeitpunkt brennen und dass sich jeder über sein Geschenk freut, was natürlich allein betrachtet schon gar nicht immer vorkommen kann. Und trotzdem ist Weihnachten in der Summe der einzelnen Entscheidungen immer anders. Einmal ist ein Kind krank, dann brennt wieder der Baum ab. Der Sternspritzer verglüht, anstatt dass er, einem Funkenregen gleich, sich über die frischen Tannennadeln und die da runter liegenden Pakete gefahrlos verteilt.“
Er nannte noch drei, vier Beispiele, um mir damit klarzumachen, dass die eigene Vorstellung und die Realität in den seltensten Fällen miteinander übereinstimmen. War man nun in der Lage, die Vorstellung eines anderen zu erkennen, so war das aus seiner Sicht die „ideale“ Form der Kommunikation, was in unsere Sprache übersetzt bedeuten würde, dass er in der höchsten Form der Manipulation, nämlich der Antizipation, agierte. Immerhin stammte diese Erkenntnis von Jeffrey Dahmer, der in Milwaukee 17 junge Menschen umgebracht hatte, mehr oder minder unter den Augen der Öffentlichkeit, in seiner eigenen kleinen Wohnung, in einem Mehrfamilienhaus, wo er seine Opfer versteckte. Einmal war er sogar imstande, ein Opfer, das geflüchtet war und bereits ein von ihm in den Kopf gebohrtes Loch aufwies, von der Straße zurück in seine Wohnung zu bringen, obwohl ein Polizist bereits anwesend war. Er analysierte die Situation, die Bedürfnisse seines Gegenübers und unter dem Vorwand, dass man sich gestritten habe, war er in der Lage, das Auge des Gesetzes so weit wieder zu schließen, dass er sein Opfer zurück in die Wohnung brachte, wo er es schließlich tötete.
Ein seltsamer Umstand, der mir plötzlich durch den Kopf ging. Denn war nicht Ello Dox derjenige, der mir eine Frage stellte, obwohl er die Antwort darauf schon wusste? Antizipierte er dadurch nicht, dass ich automatisch lügen musste, außer wenn ich ihm schlichtweg den Auftrag ins Gesicht knallte und ihm mitteilte, ich sei hier, um die Daten zu sichern und sie in die Hände der Justiz zurückzubringen? Der ganze Auftritt, seine ersten Aussagen und die nunmehr dargelegte Frage waren ein einziger Test.
fünfzehn
„Um von Ihnen zu lernen, Herr Dox, ich bin hier, um einfach nur von Ihnen zu lernen. Sie glauben, dass ich im Kapitel 46 übertrieben habe? Das habe ich nicht. Kapitel 46 ist das billige Vorspiel von Dingen, die tagtäglich im Leben passieren. Menschen, die verzweifelt am Arbeitsplatz auf und ab gehen und sich nicht mehr identifizieren können. Frauen, die um vier Uhr in der Früh mit kleinen Kindern, die schlafend auf ihrem Schoß liegen, dutzende, manchmal hunderte Kilometer fahren müssen, um eine neue Arbeit zu suchen, und weil sie niemanden haben, müssen sie ihre Kinder bereits um drei Uhr in der Früh aufwecken, um sie dort in die Schule zu bringen. Männer, die ihre Familie nicht mehr ernähren können, und Kinder, die wochenlang beim Abendgebet nach ihrem Vater fragen. Vielleicht manchmal für immer, weil er die Schande nicht mehr ertragen hat, keine Arbeit zu finden. Ich möchte, Herr Dox, einfach nur lernen. Von Menschen, die glauben, mit dem Zünder der Atombombe in der Hand auf dem Hügel stehend, so allmächtig zu sein, um über andere
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