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GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Müller
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deiner Hütte.“
    Als ich mich umdrehte, nachdem ich noch einen längeren sehnsuchtsvollen Blick in die aufgehende Sonne geworfen hatte, erkannte ich, dass einige andere sich auch ihrer Sakkos entledigt hatten. Vielleicht weil sie wussten, dass es jetzt etwas wärmer werden würde. Ich schob meinen Stuhl unter die Glasplatte, ging auf die gegenüberliegende Seite, an der der Generaldirektor saß, nahm einen schwarzen Stift und begann auf dem Flipchart zu zeichnen. Ich tat das, was ich vor 20 Jahren verlernt hatte zu tun und was ich als ausgebildeter Kriminalpsychologe immer öfter wieder tat. Ich malte. Im Wissen, dass wir hochkomplexe Zusammenhänge oft grafisch besser darstellen können als in Tausenden von Zeilen und Seiten. Ich wollte Antworten geben, auf Fragen, die aber noch keiner gestellt hatte. Wissend, dass es den meisten in diesem Raum nicht um Erklärungen ging, sondern um eine Lösung. Mir ging es aber auch darum, die Ursache aufzuzeigen und nicht nur die Wirkung zu bearbeiten. Ich war als Gast gekommen und würde selbstverständlich nicht mein Gastrecht missbrauchen. Aber ich würde mit Sicherheit versuchen, so wie ich es immer tat, meine Pflicht zu erfüllen. Dem Gastgeber auf seine Frage zu antworten: Was war hier eigentlich passiert?
    Die komplexen Zusammenhänge und Abhängigkeiten, die mehr als durchsichtigen narzisstischen Bedürfnisse Einzelner und die doch schon sehr klar zum Ausdruck gebrachten opportunistischen Gedanken anderer mussten am Beginn dieser sehr komplexen Situation beiseite geschoben werden. In Krisensituationen wie diesen gibt es auch in hochgradig strukturierten Betrieben und Institutionen ganz wenige Augenblicke, in denen alle Beteiligten der Meinung sind, dass man an eine Problemstellung multidisziplinär und unter Zuhilfenahme anderer herangehen sollte. Einer dieser wenigen Augenblicke ist jener Zeitpunkt, wann es für alle Anwesenden am schmerzhaftesten ist, nämlich der Augenblick, wann sie das erste Mal erkennen, wo ihre Schwachstellen liegen und wie erpressbar sie eigentlich geworden sind: die Erkenntnis der eingetretenen Katastrophe.
    Dann beginnt in der Regel sehr rasch die erste Suche nach Schuldigen. Ein Umstand, der in der Krisensituation etwa so intelligent ist, wie am Mond eine Würstelbude zu eröffnen. Zum Zeitpunkt der Krisenbewältigung gilt es einmal mehr nach dem chinesischen Prinzip zu operieren. Wenn ein Problem vorhanden ist, gibt es zwei Möglichkeiten: Man kann einerseits beginnen, einen Schuldigen zu suchen, oder auf der anderen Seite danach trachten, das Problem zu lösen. Es versteht sich von selbst, dass die zweite Möglichkeit die angemessenere ist.
    Als ich begann, meinen horizontalen Strich von links nach rechts auf das Flipchart zu malen, glaubte ich, dass jener Punkt erreicht war, dass die maximale Aufmerksamkeit auf die Frage des „Warum“ als gegeben angenommen werden konnte. Niemand wusste, was zu diesem Zeitpunkt folgen würde. Wahrscheinlich war jeder darauf erpicht, zu erfahren, ob er persönlich einen Beitrag dazu geleistet hatte, dass die meisten von ihnen jetzt noch immer nach 36 Stunden ohne Schlaf bei Sonnenaufgang im heiligen Zentrum der Entscheidung saßen. Sich abermals eingefunden hatten, in der Hoffnung, darüber informiert zu werden, was jetzt passieren würde. Als ich den horizontalen Strich auf der rechten Seite mit einem kleinen harten „t“ verzierte, was ich als Kürzel für die Zeitachse erläuterte und auf der linken Blattseite einen vertikalen Strich von oben nach unten zog und diesen, der Geografie entsprechend, in der lokalen Sprache mit „Grad der Zufriedenheit“ betitelte, wurde mir mit aller Deutlichkeit bewusst, dass die ersten 48 Stunden nach Bekanntwerden einer Krisensituation die entscheidendsten sind. Ich kritzelte in die rechte obere Ecke noch die Buchstaben „WPV“, schloss den dicken Edding-Stift, drehte mich um.
    Plötzlich, wie von Geisterhand gezogen, öffnete sich die dicke gepolsterte Türe und ein kleiner Mann mit angegrauten Haaren, der sich auf ein schmuckes Stöckchen stützte, betrat den Raum. Er war ein wenig untersetzt, sein Gang gerade und fest. Sein Körper steckte in einem tadellosen Anzug, die Schuhe braun, handgenäht, perfekt auf den Anzug abgestimmt. Er trug eine schlichte Uhr, sonst keinen Schmuck, aber zwei Eheringe. Am meisten beeindruckten mich seine wachen Augen, die in ihrem schweren Blau so tief und unergründlich erschienen wie ein Bergsee.
    Sein dichtes Haar war

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