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GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Müller
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sind. Verzeihen Sie mir bitte, dass ich gerade Sie damit behellige. Sie, der mir als Einziger dieser Institution in der schwersten Zeit meines Lebens beigestanden waren. Aber es ist mir ein Bedürfnis ...“ Das war es. Er entschuldigte sich für das, was er getan hatte. Er hatte dem Personalchef geschrieben. Aber verständlicherweise hatten alle, die den Brief gelesen hatten, nur die Drohung gesehen, die Konsequenz, das Ausmaß der Katastrophe. Aber nicht den wichtigsten Satz: „... dass gerade ich Sie damit behellige“. Ich warf das nasse Leintuch beiseite, tastete nach dem Lichtschalter und sprang aus dem riesenhaften Bett. Der Albtraum, die geistige Suche nach der entscheidenden Information, dem Puzzlestein, der für mich der entscheidende Durchbruch war, um etwas näher begreifen und auch, um weiterarbeiten zu können, war Anlass genug, dass ich mich zum Kühlschrank stürzte, der etwa so groß war wie der Kleiderschrank bei mir zu Hause. Als ich ihn öffnete und erkannte, was darin war, hätte ich eine flüssig-olfaktorische Weltreise machen können. Vom alpenländischen Jägermeister über französisches Mineralwasser bis zum griechischen Metaxa. Warum man in diesem Land Metaxa im Kühlschrank lagert – o terra, o mores – egal, es war alles vorhanden.
    Nachdem ich meinen Magen hoffnungslos mit einem Liter Orangensaft übersäuert hatte, machte ich mich über den Brief von Ello Dox her. Die Spannung des Falles, die Dimension des Bedrohungsszenarios, die komplexen Zusammenhänge, aber vor allem die Persönlichkeit von Ello Dox und der Umstand der Zeitverschiebung waren die besten Garanten dafür, dass an Schlaf nicht mehr zu denken war.

dreiundzwanzig
    10. Mai 2005, 22.45 Uhr, Genf, Pont de la Machine. Vor meinem geistigen Auge versuchte ich zusammenzufassen. Die Daten gab er nicht her, das war zu erwarten. Andererseits hatte er um diesen Termin gebeten, wollte ein persönliches Gespräch führen. Er hatte Genf vorgeschlagen, die Uhrzeit, die Örtlichkeit, und ich war ihm bis jetzt in allen Dingen entgegengekommen. In einer vernünftigen und fairen Verhandlungsführung, die ich einfach voraussetzte, gab und gibt es aber ein ehernes Gesetz. Ebenfalls ein „Quid pro quo“.
    Natürlich gebe ich dir etwas, gebe ich nach, natürlich komme ich dir entgegen, aber dafür möchte ich auch etwas haben.
    Mir war auch klar, dass das keine Verhandlung im üblichen Sinn war. Es war mehr eine Aufarbeitung und vor allem wusste ich, dass ein einziger falscher Satz, eine falsche Note, eine unglückliche Interpretation alle bisherigen Versuche, einen Schritt weiter zu kommen, zunichte machen konnten. Eines stand fest: Ello Dox hatte nichts mehr zu verlieren. Dieser Umstand war beunruhigend, aber nicht wirklich gänzlich neu. Ich hatte es immer wieder beobachtet, dass Leute sich in eine Situation – oder nennen wir es besser Szenerie – hineinmanövriert hatten, für den Aufbau, die Logistik, die zeitlichen Vorgaben und die Auswahl der Örtlichkeiten ein unglaubliches Ausmaß an Planung an den Tag gelegt hatten. Ja, man konnte fast sagen, sie hatten alles geplant, bis auf eines: Die Exit-Strategie, den Ausweg, das kleine Schlupfloch, um aus dem gesamten Dilemma noch aussteigen zu können.
    Man konnte gerade Ello Dox nicht unterstellen, dass er zu wenig intelligent dafür gewesen wäre, auch noch an dieses kleine Detail zu denken. Nein, er war ja felsenfest davon überzeugt, sein Ziel erreichen zu können. Aber so wie sich Abhängigkeiten im Laufe eines Lebens ändern, so verschieben sich auch die Bedürfnisse der Menschen. Am Anfang, nachdem der Plan gereift ist, die vorbereitenden Handlungen getroffen sind, der entscheidende Brief geschrieben, frankiert und aufgegeben ist, steht nur eines im Vordergrund – die Macht. Mit einem einzigen Schreiben, mit einem einzigen Satz alle Erinnerungen, negativen Gedanken und scheinbar unentschuldbaren Demütigungen in einem gigantischen, theatralisch inszenierten Akt zu kompensieren.
    Aber nach diesem ersten Schritt, dem Brief, dem Schuss, der Drohung, der gezündeten Bombe, verändern sich die Bedürfnisse. Plötzlich steht nicht mehr die Macht im Vordergrund, sondern das Verständnis, der Beweis, warum man es getan hat, die Begründung, die Erkenntnis aus der Handlung soll in den Vordergrund rücken. Jetzt mögen die Geknechteten und Gedemütigten aufstehen und Verständnis dafür zeigen, warum er was getan hat. Aber vor allem sollen es die anderen tun, die Zaungäste, jene, die

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