GIERIGE BESTIE
seiner Fähigkeit, so komplex denken zu können, nicht in der Lage gewesen, sich mit diesem Mann zu arrangieren? Eine Stufe höher zu gehen? Wahrscheinlich musste noch etwas passiert sein, was ich noch nicht wusste und was unsichtbar von außen, wie ein kleines Bohrwürmchen unter der Oberfläche dahinkriechend, langsam aber sicher den Weg zum Sicherungskasten der eigenen moralischen Existenz gefunden hatte. Es mussten ein paar Dinge zusammengekommen sein, die ihn so weit gebracht hatten, dass er etwas tat, was er zeitlebens eigentlich verhindern wollte. Zugegeben, der Fall war etwas Neues für mich, er hatte eine verschobene Dimension. Es ging um andere Motive, aber ich war froh, dass ich ein kleines Werkzeugkästchen, das ich in den letzten Jahren oder Jahrzehnten immer wieder komplettiert, geputzt, gereinigt, geschärft, mit neuen Möglichkeiten ausgestattet hatte, mein Eigen nennen konnte – die kriminalpsychologische Betrachtungsweise.
Es ist nicht entscheidend, was jemand sagt, sondern das, was er tut. Ich hätte mich auch sehr schwer getan, aus den anwesenden Personen in dieser Institution etwas darüber zu erfahren, was wirklich passiert war. Trotzdem, irgendwo muss es einen objektiven Beweis dafür geben. Ich wusste einmal mehr, dass niemand von einem Tag auf den anderen, auch wenn das Bohrwürmchen noch so schnell dahinkriecht, sich die moralische Instanz wegnehmen lässt oder selbst wegwirft, solange er sich mit der Institution und seiner Firma identifiziert. Nein, das gibt es nicht. Ich wusste aber auch aus der Analyse von all den bisher bearbeiteten Fällen, aus der Suche nach jenen Kriterien, die nach außen hin sichtbar sind, wenn jemand den Pfad der moralischen Normalität verlässt, dass es ein Merkmal gibt, das man als untrügliches Anzeichen heranziehen kann, um zu erkennen, dass jemand beginnt, massive Zweifel an sich selbst zu haben, indem er anfängt, die Zeit des Vorgesetzten über Gebühr in Anspruch zu nehmen. Ich habe es immer wieder gesehen in derartigen Fällen, dass Leute versuchen, Kontakt mit ihren Vorgesetzten aufzunehmen, Eingaben und Vorschläge machen, die zunächst dankbar, dann schon etwas zögerlicher und mit zunehmender Frequenz der Vorsprachen widerwilliger entgegen- oder zur Kenntnis genommen werden. Nicht selten kommt es vor, dass man im Vorzimmer Nachricht hinterlässt, man sei gar nicht da. Er solle die Eingabe schriftlich machen oder, weil Ostern bereits heranrückt und die Zeit vor dem Sommer für andere strategische Maßnahmen genützt wird, Termine im Herbst vergeben werden. Eine klare Botschaft für denjenigen, der etwas möchte: „Du bist unwichtig.“
Aber jede Situation und jeder Umstand hat eben drei Seiten. In diesem Fall jene, die der Vorgesetzte sah und aus seiner Sicht sehr wohl richtig entschied, denn er konnte einfach nicht einem Mitarbeiter ständig seine Aufmerksamkeit schenken. Es war unmöglich.
Die Betrachtungsweise desjenigen, der etwas wollte, bei dem das Selbstwertgefühl langsam zu zittern begonnen hatte und schließlich eingebrochen war. Er wollte ja nur die notwendige Rückmeldung von seinem Vorgesetzten erhalten, dass er noch wertvoll und wichtig für die Institution sei. Und dann die dritte Seite, die beide nicht sahen. Was lösten beide gemeinsam damit aus, wenn sie die Kommunikation beenden würden? Der Chef, der keine Lust mehr dazu hatte, der Untergebene, der das Gefühl hatte, er sei nichts mehr wert, und die dritte Seite war, dass sie beide gemeinsam, ohne dass sie es wussten, durch ihre nicht vorhandene Zweisamkeit die destruktive Basis für ein Sicherheitsproblem schafften.
Wer hört sich schon gerne Kritik an? Wer umgibt sich schon bereitwillig mit Leuten, die nicht Schulter klopfend, sondern korrigierend in das Leben eines anderen eingreifen? Wer kann schon von sich behaupten, dass er gerne und duldsam nach den weisen Regeln chinesischer Gelehrter lebt: „Höre die Stimme deines Feindes, denn sie verrät dir die Wahrheit“? Nein, das ist zu viel verlangt. Und deswegen beginnen nicht selten Leute, die in verantwortungsvolle Positionen gekommen sind, sich stets mit Vertrauten zu umgeben. Natürlich auch, um dem eigenen Sicherheitsbedürfnis nachzugehen, aber manchmal auch, um es sich ein bisschen bequemer zu machen. Wer hat schon gerne ständig einen Stachel im Fleisch, der ihn daran erinnert, dass allzu große Bequemlichkeit und Sicherheit in Lethargie und schließlich in den eigenen Untergang führen? Nein, ich war davon
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