GIERIGE BESTIE
jetzt das Urteil sprechen sollten.
Dies war ein entscheidender Punkt im nun folgenden Gespräch mit Ello Dox. Denn würde es gelingen, den ersten Teil schlichtweg wegzulassen, wäre es vielleicht möglich, eine andere Form der Kompensation darzulegen, anzubieten, zu diskutieren oder zu verhandeln.
„... die Daten zu sichern oder zu vernichten und Ello Dox der Justiz zuführen ...“
Nicht umsonst hatte ich Jahre meines Lebens damit verbracht, an der Bedürfnisbefriedigung und den theoretischen Grundsätzen der psychologischen Betrachtungsweise von deviantem, also abweichendem Verhalten herumzubasteln, Auswege und Strategien zu entwickeln, die gefährlichsten Formen der Manipulation und der Antizipation zu studieren. Zugegeben, er war intelligent, er war gut, sehr gut sogar. Er hatte mich überrascht mit seinem Einstieg, aber er war, nachdem ich ihm ein paar Brocken aus der Institution hingeworfen hatte, selbst etwas unsicherer geworden. Was konnte schiefgehen? Ein Gespräch wie jedes andere. Aber da gab es einen Haken. Ello Dox war vollkommen frei und unabhängig. Er war an nichts und niemand gebunden. Er hatte seine Frau verloren und um von jemand etwas zu erhalten, musste ich ihm etwas anbieten. Die Daten gegen fünf Jahre Haft? Ein schlechter Deal. Eine Weltreise? Die hatte er seit Monaten. Einen Flug mit einem Heißluftballon?
Ello Dox lebte seit Jahrzehnten in virtuellen Welten, er sprach mehr als ein halbes Dutzend Sprachen und bewegte sich, wo immer und wann immer er irgendwo auf dieser Welt hinkam, sicher und gewandt. Er wusste sich zu verständigen, zu kommunizieren und er hatte selbst mit den besten Technikern der Institution Katz und Maus gespielt, indem er ihnen einmal vorgaukelte, seine E-Mail sei aus Finnland gekommen, aber dann flatterte wieder eine aus Toronto in Kanada ein. Er schien in Washington genauso gewesen zu sein wie in einem Internet-Café in Stockholm in der Nähe des Wasa-Museums.
Er gab die Regeln vor, was konnte ich also diesem Mann anbieten? Es gab in der Tat nichts anderes als eine andere Zukunftsperspektive. Die führte aber ausschließlich über einen sehr schmalen und unsicheren Pfad, nämlich der persönlichen Aufarbeitung, was in seinem Leben passiert war. Die führte nur über die Ehrlichkeit und ich war mehr denn je davon überzeugt, dass dieser Fall für alle Beteiligten nur dann gut ausging, wenn es in der Tat gelang, eine dieser höchst seltenen, wenn auch, wie ich persönlich der Meinung bin, unmöglichen Win-Win-Situationen herbeizuführen.
Dabei erinnerte ich mich kurz an die manchmal glühend vorgetragenen Brandreden von manchen Spitzenreformern, die mit ihrem fundierten Wissen, welches sie sich in dreimonatigen Schnellkursen in Organisationspsychologie angeeignet hatten, stets von Win-Win-Situationen sprachen, die ich mehr, man möge mir die Offenheit verzeihen, für einen guten PR-Gag von all jenen halte, die, wo immer sie auch auftauchen und sich berufen fühlen, alles ab- und umzuändern, ihren persönlichen Stempel aufdrücken wollen. Es ist gegen die Gesetze der Natur, dass alle gewinnen. Actio est reactio – und wenn der Goldkurs steigt, wird er irgendwann fallen, und auch wenn es den Giga-Crash auf der Börse gibt und tausende, ja Millionen Menschen Geld verlieren, gibt es irgendwo eine andere Anzahl von Personen, die sich Schulter klopfend im Dauergelächter und in der Dauerfreude finden.
„Herr Dox, ich kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, was mit Ihnen passiert ist. Ich würde es aber gerne verstehen und ich habe Ihnen versprochen, ich werde Sie nicht davon abhalten, Ihre kleine persönliche Bombe zu zünden. Aber bevor Sie es tun, geben Sie mir zumindest die Möglichkeit zu verstehen. Nur annähernd nachvollziehen zu können, was Sie dazu getrieben hat, das zu tun, was Sie getan haben.“
Ich wollte versuchen, die Logik seines Handelns, sein Verhalten, seine Reaktionen auf meine Reaktionen, seine Stressfaktoren und jene Dinge, die ihm trotz aller Katastrophen noch kleine Freuden bereiteten, herauszuarbeiten. Ich wollte diesen Menschen und seine Biografie kennen lernen, wie ich bei jedem Tötungsdelikt versuchte, das Opfer, das nicht mehr sprechen kann, mit vielen Einzelheiten wieder zum geistigen Leben zu erwecken. Dieser Vorgang ist eine tragende Säule in der kriminalpsychologischen Beurteilung und der Analyse von Kapitalverbrechen – so viel wie möglich über das Opfer zu erfahren. Warum gerade diese Person und nicht jemand anderer?
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