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GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Müller
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wie es mir ergangen ist. Ich habe getan, was ich tun konnte. Ich habe mein Wissen, mein Verständnis, ja mein Leben dafür gegeben, um mich für eine Sache einzusetzen. Im Prinzip habe ich nur um eines gebeten: um eine faire Behandlung.“
    Jetzt änderte sich seine Stimme abermals und er brüllte mir entgegen. „Ein Verständnis, das ich nie erhalten habe! Glauben denn manche wirklich, sie können sich aufführen, als ob der Letzte Tag bereits angebrochen ist? Glauben manche Leute tatsächlich, sie könnten über das Schicksal von tausenden Menschen entscheiden? Nein, diese Leute haben keine Ahnung. Und all jene, die es mit mir probiert haben, werden mich jetzt kennen lernen. Ich habe das, wozu ich mich wochen- und monatelang vorbereitet habe. Ich habe etwas, was mehr wert ist als tausend Kisten Gold.
    Ich habe Macht, weil ich über viele Menschen etwas weiß, was niemand wissen sollte. Ich habe diese Menschen in meiner Hand, aber ich werde mich nicht bereichern. Ich werde sie nicht erpressen. Ich werde sie einfach bloßstellen!“
    Kurz stellte ich mir die Frage, ob er nicht wahnsinnig geworden war. Zug um Zug, Zigarette um Zigarette warf er mir eine Begründung nach der anderen entgegen, warum der Sinn seines gesamten Lebens nur mehr darin besteht, sein Werk der Zerstörung zu vollenden. Nicht indem er ein Hochhaus sprengte, nicht indem er Menschen umbrachte. Er wollte bloßstellen. Er wollte vernichten, indem er, und darin lag das Groteske der gesamten Situation, Fakten veröffentlichen wollte. Informationen, die er sich durch monatelange Recherche, durch Eindringen in fremde Datenbanken, durch Kopieren von Unterlagen und betrügerisches Ausspionieren angeeignet hatte. Er war nun derjenige, der das Recht für sich in Anspruch nahm – und welche Rolle spielte ich bei dem Ganzen?
    Freilich, sein Verhalten war strafrechtlich relevant. Er hat gestohlen, betrogen, genötigt. Aber was tat er damit? Er würde etwas tun, damit es andere nicht tun müssen. Er fühlte sich geradezu wie Michael Kohlhaas und ich war zugegebenermaßen plötzlich verwirrt. Weil er mir in einer sehr klaren und deutlichen, aber trotzdem so einfachen Sprache zu verstehen gab, dass ich gut daran täte, meine Position zu hinterfragen. Gibt es Handlungen, die rechtens sind, obwohl sie verboten sind? Gibt es Entscheidungen, die verboten sind, obwohl sie moralisch mehr als wünschenswert sind? Ich verstand plötzlich gar nichts mehr. Und abermals eine Zigarette. Die Kippe hatte er in den linken Mundwinkel gesteckt und während er mit der linken Wangenseite zog, wölbte sich, wie bei einem Blasbalg, die rechte Wange nach außen, um den gerade eingezogenen Rauch, einer geysirartigen Fontäne gleich, nach vorne zu blasen. Mir war es schier unmöglich, sowohl der glimmenden Zigarette als auch dem Gesicht, das nun schemenhaft einem qualmenden Kamin immer ähnlicher wurde und sich weiter zu meinem eigenen Gesicht schob, auszuweichen. Er zog und blies. Er schnaufte. Ello Dox war an einem Punkt angelangt, wo es aus seiner Sicht kein Zurück mehr gab.
    Das Gespräch war beendet, die Verhandlung gescheitert. Seine Mission war klar. Er wollte all jene Menschen rächen, die durch ein unglückliches, demütigendes oder auch provozierendes Verhalten am Arbeitsplatz in eine Situation hineingeraten waren, aus der sie aus freien Stücken nicht mehr herauskamen. Ello Dox wurde aus seiner Sicht zum Inbegriff einer alles unter sich begrabenden Explosion. Er wollte Macht erreichen, um zu demütigen. Er wollte vernichten, um zu verurteilen. Er war im Begriff, genau das zu tun, was er am meisten verachtete. Dieser hochintelligente Mann, der ein halbes Dutzend Sprachen sprach, sich auf der ganzen Welt bewegen konnte wie kaum ein anderer, der die technischen Fähigkeiten besaß, sich nahezu weltweit in alle Computersysteme hineinzuspielen, an Daten und Informationen gelangte, die niemals in seine Hände gelangen durften. Dieser Mann wurde nunmehr zum Racheengel und diese Rolle wollte er spielen. Sein Ausdruck, seine Sprache, seine nonverbale Kommunikation zeigten nur eines: Ich habe Macht.
    Jetzt sprach er nicht mehr. Er starrte mich nur mehr an. Ich wusste nicht mehr, wie viele Passanten sich auf der Pont de la Machine nach uns umgedreht hatten. Diese Situation konnte nicht grotesker sein. Ein in einem einwandfreien Business-Look gekleideter Kriminalpsychologe klammerte sich mit seinen Handflächen an das eiserne Geländer einer alten Brücke, wobei sich sein Oberkörper,

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