GIERIGE BESTIE
die in der Vorstellung, ja alle Geburtstagskerzen ausblasen zu müssen, so tief Luft holen, dass sie sich dabei noch nach hinten beugen müssen, um ihre Lungenflügel ausreichend mit luftiger Munition zu versorgen, beugte er sich beim Einsaugen seines Qualms nach hinten und schrie mir dann mit dem aufgestauten Hass von kumulierender Demütigung entgegen: „Einmal, Herr Doktor Müller, nur ein einziges Mal möchte ich jene demütigen, die mich gedemütigt haben! Niemand wird mir mehr vorschreiben, was ich zu tun habe, was ich zu lassen habe. Ich allein werde darüber bestimmen, ob die Qualität meiner Arbeit stimmt. Glauben Sie, ich habe all diese Anstrengungen unternommen, damit sie sich dann in Luft auflösen?“
Sein Gesicht war zu einer entsetzlichen Fratze verzogen und mit jedem Wort, das er mir entgegenschrie, drang in kleinen Stößen der gesamte Rauch wieder aus seinem Leib heraus. Eine geradezu groteske Situation. Im Hintergrund seines Kopfes zeichneten sich die Leuchtreklamen all jener Institutionen ab, die Genf auch zu einem der weltgrößten Finanzplätze machen. Ich konnte die Schriftzüge nicht lesen, aber durch den Schein der unterschiedlich farbigen Neonröhren, die Ello Dox von hinten beleuchteten, entstand der unglaubliche Effekt, dass auch der Rauch in unterschiedlichen Farben aus seinem gesamten Schädel quoll. Nicht nur aus dem Mund. Es schien mir, als ob der Dampf auch aus den Ohren und zwischen seinen Haaren nach außen drang. Dadurch, dass er sich vorbeugte, musste ich mich zurückbeugen und ich spürte bereits, wie sich das Geländer der Brücke zunächst in mein Kreuz, später tiefer und tiefer in meine Schulterblätter bohrte. Am Beginn unseres Gespräches hatte ich ihn immer wieder darauf aufmerksam gemacht, doch etwas leiser zu sprechen. Jetzt allerdings kannte er keine Grenzen mehr.
Er brüllte mich an und gebärdete sich wie ein wildes Tier. In einem letzten Zug verwandelte er den Rest seiner Zigarette in eine glühende Feuerstange, holte abermals tief Luft, warf die Kippe in den See und stützte sich mit beiden Händen am Geländer ab. Dadurch musste ich mich noch weiter nach hinten beugen und es erschien mir, als ob das Rauschen der Rhône doppelt so stark war als vorher.
„Warum sind Sie eigentlich gekommen?“, herrschte er mich an. „Wie können Sie es wagen, mir zu sagen, was ich nicht tun soll? Was wissen Sie von Demütigung, Neid, Hass, Gier? Warum glauben Sie immer alles verstehen zu müssen? Warum lassen Sie mich nicht einfach in Ruhe meine Entscheidungen treffen? Schreibe ich Ihnen vor, wie Sie Ihre Fälle analysieren? Schreibe ich Ihnen vor, wie Sie mit Ablehnung umgehen sollen? Sie haben kein Recht, mich zu maßregeln. Wir beide haben eine Vereinbarung getroffen. Nämlich dass ich Ihnen alles erzähle und niederschreibe, was ich über solche Handlungen weiß, einschließlich der Hintergründe der Möglichkeiten – wenn Sie mit mir gemeinsam eine Lösung finden, aus dieser ganzen Sache herauszukommen!“
Jetzt kannte auch sein Zorn keine Grenzen mehr. Sein Gesicht verzog sich in einer geradezu unnatürlichen Art und Weise und ich wartete nur darauf, dass er sich zwei Zigaretten gleichzeitig ansteckte. Sein Gesicht kam noch näher an das meine heran und ich hatte das Gefühl, den Atem der Hölle leibhaftig erfahren zu müssen. Aus seinem Mund entströmte nunmehr eine einzige in Rauch eingewickelte Hasstirade. Aber als ob der Rauch wie ein geheimnisvolles Tuch sein Gebrüll einwickeln würde, sprach er nun leise, sehr leise.
„Ich entbinde Sie hiermit von Ihrer Verpflichtung.“
Seine Worte kamen geradezu schleichend, ja schneidend und der rasche Wechsel vom lauten Schreien zu einem beinahe Flüstern wurde von mir als noch schmerzhafter empfunden, als wenn er mich weiter angebrüllt hätte. „Ich entbinde Sie nunmehr von Ihrer Verpflichtung, mit mir eine gemeinsame Vereinbarung zu treffen“, hauchte er abermals. „Sie, Herr Doktor Müller, haben versagt. Ich werde mein Werk der Zerstörung und Vernichtung fortsetzen. Ich werde aufzeigen, was schon lange hätte aufgezeigt werden müssen. Verbindungen und Verknüpfungen. Daten, Fakten und Wahrheiten. Ich werde all jene ans Licht zerren, die ewig wie Spinnen und Asseln in ihren Ritzen sitzen, die Macht in ihren Händen haltend, und andere Menschen behandeln, als ob sie immer noch Sklaven des 17. Jahrhunderts wären. Nein, ich werde es nicht mehr erdulden und schon gar nicht ertragen, dass es tausend anderen so geht,
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