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GIERIGE BESTIE

GIERIGE BESTIE

Titel: GIERIGE BESTIE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Müller
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hatte. Ich kniete auf dem Boden. Mich mit der linken Hand an einer kleinen Holzbalustrade abstützend, versuchte ich mir langsam in Erinnerung zu rufen, was eigentlich passiert war. Mühsam wollte ich aufstehen und bemerkte, dass es nicht ging. Meine Knie schmerzten, meine Stirn brannte und meine Augen fühlten sich feucht und kalt an.
    „Kommen Sie, ich helfe Ihnen, Sie müssen sich hinsetzen. Sie haben zu lange gekniet. Ich kenne dieses Gefühl, man kommt dann nicht hoch. Geben Sie mir Ihre Hand und stützen Sie sich an meiner Rechten ab“, vernahm ich ein weibliches Stimmlein.
    Nun ergriff ich mit der Rechten die Holzbalustrade und versuchte mich hochzustemmen. Mit meiner Linken klammerte ich mich an jener kleinen Hand an, die sich mir darbot und die vorher auf meiner Schulter geruht hatte. Ich stemmte mich hoch und blickte um mich. Zu meinem Erstaunen sah ich eine kleine Frau, die mich fast ausdruckslos anstarrte. Ihr zerzaustes graues Haar fiel ihr teilweise ungeordnet ins Gesicht und war hinten zu einem Knoten zusammengebunden, in dem ein kleines Holzstöckchen steckte. Ihr Gesicht und ihre Hände waren braun gebrannt, von Falten durchzogen und gerade ihren Fingern sah man an, dass sie seit Jahrzehnten täglich zum Einsatz kamen. Der schmächtige Oberkörper war von einer dicken Wolljacke umgeben, die aus grober Wolle hergestellt war. Der Rock aus derbem Leinen reichte bis zu den Knien und die scheinbar viel zu dünnen Füßchen steckten in riesigen Filzpantoffeln. Das Alter war schwer zu schätzen, aber ich nahm an, dass die Frau mindestens 70 Jahre alt war.
    „Ich habe versucht, die Wege vor der Kirche vom Schnee frei zu halten, als ich ein Wimmern von drinnen hörte. Ich wollte Sie in Ihrem Gebet nicht stören, deswegen habe ich lange Zeit gewartet und habe mich im hinteren Teil der Kirche nützlich gemacht. Es geht um das Gemälde, nicht wahr? Es bewegt Sie?“, meinte sie fragend.
    „Ja, das tut es. Sie haben Recht. Es ist das Gemälde“, hörte ich mich sagen und erschrak selbst über meine Stimme. Mein gesamter Redefluss erinnerte an jenes wimmernde Gekrächze, das jeder nur mühsam hervorbringt, wenn er nach Stunden der Verzweiflung, sich in Tränen ergießend, in der eigenen Auflösung wiederfindet. Es erinnert an jene Situationen, wo nicht die stumme Verzweiflung einen Menschen in den Bann zieht, sondern das gesamte Unglück aus einem herausbricht. Mit Tränen erstickter Stimme bestätigte ich ihr nochmals. „Ja, es ist das Gemälde. Warum wissen Sie das? Es hätte auch ganz etwas anderes sein können.“
    „Ja, das hätte es. Aber ich habe mehrmals gehört, wie Sie gesagt haben, warum die Kinder? Warum immer die Kinder?“
    Ich hatte diese Frau noch nie in meinem Leben gesehen. Die Situation hätte eigentlich nicht peinlicher sein können. Aber irgendetwas hinderte mich daran, vor lauter Scham im Boden zu versinken. Vielleicht war es der Umstand, dass mir die kleine Frau immer noch die Hand reichte. Vielleicht weil ich, mehr hinkend als gehend, mit der rechten Hand nach Halt suchend, mich langsam auf die erste Kirchenbank zubewegte, um mich dort ein wenig hinzusetzen und meinen Knien etwas Ruhe zu gönnen. Vielleicht war es aber auch meine gesamte Mattheit, die mich nunmehr durchzog. Jetzt erst nahm ich die vielen Kerzen wahr, die vor dem Altar brannten. Ein kleines schmiedeeisernes Gestell mit unzähligen Stacheln, auf denen kleine und größere Kerzen steckten, stand vor jenem Holzgeländer, welches aus kunstvoll gedrechselten Kegeln bestand, vor dem ich offensichtlich längere Zeit gekniet war. Es war mir nicht möglich, die Kerzen zu zählen, denn der Schein des Lichtes verschwamm in abertausend kleinen Strahlen, die sich konzentrisch in alle Richtungen bewegten. Es waren offensichtlich die Tränen, die mir immer noch in den Augen standen, die den klaren Blick trübten, wodurch das Licht der einzelnen Kerzen ineinander verschmolz. Erst nachdem ich mir mit meinem Taschentuch mehrmals die Augen nach links und rechts ausgewischt hatte, konnte ich mich räumlich einordnen.

achtundzwanzig
    11. Mai 2005, 00.35 Uhr, Genf. „Wen glauben Sie eigentlich, dass Sie am meisten damit treffen, wenn Sie Ihre Bombe zünden?“, fragte ich ihn, aber gleichzeitig auch mich selbst. Mir war die Logistik der ganzen Handlung noch nicht klar. Ich wusste auch zu wenig, um welche Daten es sich handelte, und um es ganz ehrlich zu sagen, ich wollte es auch gar nicht wissen. Ich wusste nur, dass jeder in diesem Fall

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