Giftkuss
hinunter. Gut, dass Mamas Zimmer etwas abseits lag. Aus diesem Grund hatte noch niemand Katharinas besonderes Interesse an Zimmer 10 bemerkt. Kaum hatte sie die Tür geöffnet, als auch schon Frau Wittich auf sie zugerannt kam.
»Die Heilige. Da ist sie, die Heilige. Und sie ist pünktlich, pünktlich, du bist so pünktlich. Nur am 2. Januar, da warst du sechs Minuten zu spät, weißt du noch? Am 2. Januar…«
Sie fuchtelte wild mit den Armen in der Luft, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen. Es verging kein Tag, an dem sie diese Verspätung nicht erwähnte.
»Am 2. Januar sind die Busse nicht gefahren, können Sie sich erinnern? Das Glatteis.«
»Ja natürlich, das Glatteis. Heute ist kein Glatteis.« Frau Wittich schaute glücklich aus dem Fenster. Auf die Betonfassade von Block C fielen Sonnenstrahlen, es würde ein schöner Sommertag werden. Ihr dünnes graues Haar hing hinunter bis zu ihrer Taille und war bereits gekämmt, eine Beschäftigung, der sie gleich nach dem Wachwerden mit Akribie nachging.
»Guten Morgen, Frau Meinhard«, sagte Katharina und strich der Dame, die noch im Bett lag, über das Haar. Es klebte glatt und fettig an der Kopfhaut. »Wie geht es Ihnen heute?«
»Ihr geht es nicht gut. Sie hat wieder geträumt«, antwortete Frau Wittich ungefragt.
»So? Hat sie denn gesprochen?«
»Ja, immerzu was gerufen.«
»Und was?« Katharina versuchte, sich ihre Unruhe nicht anmerken zu lassen.
Frau Wittich stellte sich mitten in den Raum, breitete die Arme aus und rief theatralisch: »Wartet! Wartet! Ich will auch mit!«
Sie nahm die Arme wieder runter und blickte bekümmert drein. Katharina war erleichtert, Mama hatte nichts Verräterisches gesagt. Auch wenn Frau Wittich äußerst verwirrt war, konnte sie einiges aufschnappen.
»Ich werde ab morgen ihre Dosis erhöhen. Eine Tablette mehr am Tag wirkt sicher Wunder, du wirst sehen.«
»Ja, das ist eine gute Idee, Frau Wittich«, sagte Katharina.
Obwohl sie sich ein Einzelzimmer für ihre Mutter wünschte, hatte sie Frau Wittich in ihr Herz geschlossen. Es rührte sie jedes Mal, wenn die Patientin sich als Heimleiterin ausgab, Medikamente verschrieb und Therapien verordnete. Mehrere Jahre wurde sie nun schon zwischen der Psychiatrie und dem geschlossenen Heim hin und her geschubst. Sie bekamen ihre Psychose einfach nicht in den Griff. Angehörige hatte sie keine.
Mama wird hier wieder rauskommen, sie nicht.
Katharina führte Frau Wittich behutsam ans Waschbecken. Sie war zart wie eine Feder, egal wo man sie anfasste, fühlte man Knochen.
»Ziehen Sie sich bitte Ihr Nachthemd aus. Heute fange ich mit Ihnen an.«
»Ach wie schön, ich bin die Erste. Ich hab ja auch noch so viel zu tun.«
Katharina ließ lauwarmes Wasser ins Waschbecken laufen und wusch Frau Wittichs Gesicht und ihren Oberkörper mit einem weichen Waschlappen. Sie liebte diese Routine. Am liebsten würde sie sich den ganzen Tag in diesem Zimmer verkriechen.
»Anziehen will ich mich heute selber.«
»Wunderbar. Wir sind jetzt fertig.«
Frau Wittich stellte sich vor den Kleiderschrank, öffnete ihn und betrachtete ihre Garderobe. Währenddessen füllte Katharina Wasser in eine Plastikschüssel, holte einen neuen Waschlappen aus der Schublade und setzte sich auf die Bettkante neben ihre Mutter. Die zeigte keine Regung. Katharina nahm den linken Arm und fing an, behutsam mit dem feuchten Lappen darüberzureiben. Der herunterhängende Hautlappen am Oberarm wackelte bei jeder Berührung.
»Haben Sie heute wieder geträumt?«
Keine Antwort.
Katharina trocknete den Arm ab und legte ihn behutsam zurück auf die Bettdecke.
»So, nun den rechten. Wollen Sie sich nicht mal umdrehen?«
Ihre Mutter drehte sich auf den Rücken, ohne dabei die Augen zu öffnen. Aber sie legte immerhin ihren rechten Arm in Katharinas Schoß. Mit sanften Bewegungen wusch sie ihn.
Frau Wittich war im Hintergrund mit dem Ankleiden beschäftigt und Katharina nutzte die Chance, sich vorzubeugen und ihrer Mutter ins Ohr zu flüstern: »Mama, du musst mir jetzt zuhören, es ist wichtig.«
Ihre Mutter atmete laut ein und Katharina wertete das als Zustimmung.
»Es ist anders gelaufen als besprochen. Alles wird gut, es dauert nur ein bisschen länger, mach dir keine Sorgen, wirklich nicht.«
»Was flüsterst du denn da?«
»Nur ein Märchen, Frau Wittich. Das langweilt Sie nur.«
Frau Wittich gab einen unwirschen Ton von sich. Sie hatte eine lilafarbene Trainingshose und einen blau-weiß karierten
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