Giftkuss
Für sie ein Spiel, für Anja beneidenswerte Realität, ein Ungleichgewicht, das Cleo immer gestört hatte, obwohl der Reichtum ihrer Familie für Anja nebensächlich gewesen war.
Sie hörte ein Geräusch und sah kurz darauf die Katze aus dem Kellerfenster schlüpfen. Die Nacht nach Silvester kam ihr in den Sinn. Anja hatte ihren Schlüssel vergessen und sie hatten versucht, durch das kaputte Katzenfenster zu schlüpfen, wie früher, als sie noch klein gewesen waren. Beide waren sie stecken geblieben und aus dem Lachen nicht mehr rausgekommen.
Mit einem Ruck öffnete sie das Tor. Das vertraute Quietschen ertönte und Cleo erwartete, gleich Anjas Mutter zu sehen. Sie würde traurig sein, dass es nicht ihre Tochter, sondern nur deren Freundin war. Und tatsächlich: Anjas Mutter rannte die Eingangstreppe herunter und lief über die Wiese auf sie zu. Plötzlich hielt sie inne und Cleo erkannte ihre Enttäuschung.
»Hallo, Cleo. Gut, dass du kommst. Wo ist Anja?«
Sie trug einen Bademantel, ihr braunes Haar war ungewöhnlich zerzaust und sie sah blass aus. Sonst wirkte sie zu jeder Tageszeit wie aus dem Ei gepellt. Zum ersten Mal bemerkte Cleo Falten in ihrem Gesicht, vor allem rund um die Augen. Und Anjas Mutter schien plötzlich viel kleiner, denn sie stand barfuß vor ihr im Gras, ohne die üblichen hohen Absätze.
»Ich weiß leider auch nicht, wo Anja ist. Deshalb bin ich hier.«
»Ich habe schon überall angerufen, sogar die Verwandtschaft, aber keiner hat sie gesehen.«
»Ich hab’s auch schon bei jedem probiert.«
»Komm rein, Günther spricht gerade mit der Polizei. Ich habe darauf bestanden, sie einzuschalten, obwohl er es übertrieben fand. Ich mache mir solche Sorgen!«
Cleo überlegte, ob sie ihr von Anjas Bemerkung erzählen sollte, erinnerte sich dann aber an die SMS und bekam Angst, Dinge in Bewegung zu setzen, von denen sie keine Ahnung hatte. Erst einmal musste sie in Anjas Zimmer.
Als sie die Eingangshalle betraten, kam der Stiefvater aus dem Wohnzimmer auf sie zu. Das Gespräch mit der Polizei schien beendet.
»Cleo! Hast du was von Anja gehört?«
Sie schüttelte den Kopf und wunderte sich. Beim Telefonat hatte er noch so desinteressiert geklungen und jetzt war er geradezu beunruhigt. Seine Größe und die Lautstärke seiner Stimme schüchterten sie wie immer ein.
»Habt ihr euch gestritten?«
Es klang wie ein Vorwurf und Cleo unterdrückte das Bedürfnis, einen Schritt zurückzuweichen.
»Nein.«
»Hatte sie sonst mit jemandem Streit?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Was hat die Polizei gesagt?«, unterbrach Anjas Mutter das verhörartige Gespräch.
»Sie kommen, sobald sie Zeit haben. Ist wohl gerade viel los, irgendetwas mit einer Beerdigung, hab ich nicht ganz verstanden.«
Cleo brummte der Kopf. Sie brauchte Abstand zu ihm, sofort!
»Darf ich mal in Anjas Zimmer?«
»Aber natürlich. Geh schon mal vor, ich komme gleich nach«, sagte Anjas Mutter.
Das vertraute Zimmer war von Sonnenlicht durchflutet und aufgeräumt wie immer. Als sie beide noch jünger gewesen waren, zwölf oder dreizehn Jahre alt, hatte man hier kaum den Boden sehen können, so ein Chaos hatte geherrscht. Von einem Tag auf den anderen fing Anja dann an, penetrant Ordnung zu halten. Als Cleo sie gefragt hatte, ob sie krank sei oder so, hatte Anja nur mit den Schultern gezuckt. Die bunte Tagesdecke auf dem Bett war auch heute glatt gestrichen, auf dem Schreibtisch hatte sie zwei sauber geschichtete Stapel Schulsachen, der blank geputzte Holzfußboden glänzte im Sonnenlicht. Auf den ersten Blick sah Cleo nichts Außergewöhnliches.
Wenn sie wenigstens wüsste, wonach sie suchen sollte. Sie begann beim Schreibtisch und fand sofort Anjas Handy. Merkwürdig, dachte Cleo, Anja geht niemals ohne ihr Handy aus dem Haus. Im Posteingang befanden sich jede Menge ungelesene SMS, darunter auch ihre von gestern Abend, fünf von ihrer Mutter, drei von Miri und dann noch einzelne, alle nicht weiter wichtig. Im Ordner Gesendete Nachrichten befand sich die letzte SMS, die Anja verschickt hatte. Sie war an Lara gerichtet und um 18 Uhr versendet worden: Gehe erst zu Cleo, dann kommen wir in den Club. See you. Ohne viel zu überlegen, steckte Cleo das Handy in ihre Hosentasche. Das würde sie umgekehrt auch von Anja erwarten. Die Vorstellung, ihre Mutter oder ein Fremder könnte ihre SMS lesen, war ihnen beiden ziemlich unangenehm.
Sie kramte in den zwei Stapeln auf dem Schreibtisch, auf der Suche nach irgendetwas, das einen
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