Giftkuss
Hinweis geben konnte. Aber außer Schulbüchern, Mitschriften und kleinen Briefchen, die sie sich im Unterricht geschickt hatten, fand sie nichts. Cleo drehte sich um und ging zum Regal: Bilderbücher, Kinderbücher, Nachschlagewerke, Romane. Anja las immer irgendein Buch. Sie brauchte das Lesen auch zum Einschlafen, was Cleo häufig nervte, weil sie immer lieber reden wollte.
Cleo zog eines der Bücher heraus, das keine Beschriftung auf dem Rücken hatte, wurde aber gleich darauf enttäuscht. Es war nur das Fotoalbum, das Miri Anja zum Geburtstag geschenkt hatte. War es der zwölfte oder der dreizehnte gewesen? Sie wusste es nicht mehr, konnte sich allerdings noch sehr gut daran erinnern, wie schrecklich eifersüchtig sie gewesen war, als sie diese Bilder zum ersten Mal gesehen hatte.
Es waren Fotos von einem gemeinsamen Wochenende, das Miri, Anja und ihre Mutter im Wochenendhaus von Anjas Familie verbracht hatten. Cleo war nicht dabei gewesen und hatte während dieser zwei Tage geheult und sich geschworen, nie mehr mit den beiden zu sprechen, vor allem nicht mit Anja. Sie hatte sich verraten und verkauft gefühlt. Erst hinterher hatte sie erfahren, dass Miris Mutter um dieses Wochenende gebeten hatte, weil sie alleinerziehend war und arbeiten musste.
Wie oft hatte Cleo sich schon gewünscht, sich in diesem Punkt ändern zu können. Sie rutschte immer wieder in diese Eifersucht hinein und konnte einfach nichts dagegen tun. Sogar jetzt, nach vier oder fünf Jahren, gab es ihr immer noch einen Stich, die Bilder anzuschauen. Eigentlich ein Wunder, dass Anja das alles hingenommen hatte, stoisch und mit einer unerschütterlichen Treue zu ihr.
Cleo schlug das Fotoalbum zu und stellte es zurück ins Regal. Rechts daneben standen die Hörbücher. Stundenlang hatten sie nachts wach gelegen und den ganzen Kram gehört. Schade eigentlich, dass sie das schon so lange nicht mehr gemacht hatten.
Viele Erinnerungen, aber kein einziger Hinweis.
Sie nahm willkürlich ein paar Bücher vom zweiten Brett, um zu schauen, ob sich dahinter etwas verbarg. Volltreffer! Vor ihr standen Anjas Tagebücher, sauber nach Jahreszahlen geordnet, in verschiedenen Größen und Farben. Vom Prinzessinnenbüchlein mit Goldschloss aus dem Jahr 2004 bis zum DIN-A4-Hardcover-Schreibheft mit der New Yorker Skyline darauf von 2011. Das aktuelle Tagebuch fehlte. Wie sah das noch mal aus? Das hatte sie doch neulich dabeigehabt, als sie diese Sache erzählen wollte. Grün? Blau? Auf jeden Fall einfarbig. Sie suchte die aufgereihten Tagebücher ab. Hier war es nicht.
Da, das rosafarbene mit dem Pferdekopf, das hatte Cleo ihr mal aus den Reiterferien mitgebracht. Zärtlich fuhr sie mit dem Zeigefinger über den Buchrücken. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte Anja ihr aus ihren Tagebüchern vorgelesen… Das war lange her. Und überhaupt… Wann hatten sie eigentlich das letzte Mal beste-Freundinnen-mäßig zusammengesessen, so wie es gestern geplant war? Vor zwei Monaten? Drei?
Sie wusste, dass sie vor allem selbst daran schuld war, weil sie so viele Aufgaben in der Musical-AG übernommen hatte. Bescheuert eigentlich. Sie war eifersüchtig auf alles, was Anja tat, obwohl das umgekehrt nicht der Fall war. Anja hatte problemlos akzeptiert, dass die Musical-AG Cleos Leben seit einem Jahr fast komplett ausfüllte. Wieder ein Ungleichgewicht.
Sie hörte jemanden die Treppe heraufkommen und stellte schnell die Bücher zurück in die erste Reihe.
»Was suchst du denn?« Es war Anjas Mutter. Sie reichte Cleo eine Tasse Tee.
»Danke. Ach, ich…« Sie nahm den Tee und trank einen Schluck, um Zeit zu gewinnen.
»Ich will einfach irgendeinen Hinweis finden.« Mehr fiel ihr nicht ein.
»Wo können wir sie denn suchen, Cleo? Du kennst sie doch am besten.«
»Wenn ich das wüsste. Sie hat sich gestern nicht bei mir gemeldet und im Club war sie auch nicht. Niemand hat sie gesehen. Ich verstehe das nicht.«
»Die Polizei wird hoffentlich bald kommen.« Anjas Mutter setze sich auf die Bettkante und blickte sich um.
»Weißt du, was das Schlimmste ist? Wenn mich die Polizei gleich fragt, ob Anja Probleme hatte oder Feinde… Ich werde keine Antwort haben. Ich weiß nichts, gar nichts!« Sie stützte ihre Ellenbogen auf die Oberschenkel und vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Wahrscheinlich könnte sogar unsere Putzfrau mehr über sie erzählen.«
»Wieso denn die Putzfrau?«
Anja hatte tatsächlich in letzter Zeit öfter von dieser Katharina erzählt, wie nett
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