Giftweizen
Walter Dreyer versucht, die Tür zum Aufenthaltsraum des mittleren Wagens vorsichtig aufzubekommen. Die Singers hatten vor ihrer Flucht tatsächlich noch abgeschlossen! Walter ging einmal um den Wagen. Der Schlüssel befand sich auf dem Reifen des rechten Vorderrades, war also nicht besonders raffiniert versteckt, und problemlos öffnete er die Tür.
Gespannt betraten er und Judith Brunner den kleinen Raum. Gleich links befand sich ein Regalbrett, auf dem ein Paar Gummihandschuhe, eine Imkerpfeife und mehrere leere Bienenwaben-Rahmen lagen. Auf allem befand sich eine gleichmäßige Staubschicht. An einem Haken hingen griffbereit zwei Bienenschleier, die ebenfalls lange Zeit nicht benutzt wirkten.
Ganz anders der Tisch und die Holzbank auf der rechten Seite – alles war sauber, wie auch das kleine Schränkchen in der Ecke und das Geschirr in der angeschlagenen Emailleschüssel auf einem dreibeinigen Schemel. Eine Campingliege stand zusammengeklappt daneben; Decken und Kissen lagen oben auf. Hier also hatte sich Eduard Singer in den letzten Tagen versteckt!
Judith Brunner fasste nichts an und stieg achtsam die Holztreppe wieder hinunter.
Walter kam hinterher.
Manfred Lange, der draußen gewartet hatte, kündigte an: »Gleich müsste jemand kommen. Ich habe vorne am Weg einen Motor gehört.«
Am Weg? Walter Dreyer hatte über eine befahrbare Route hierher gar nicht nachgedacht. Aber richtig, irgendwie mussten die Bienenwagen früher mal an diesen Ort gekommen sein.
Noch während Judith Brunner überlegte, wie ihre Mitarbeiter von der Spurensicherung eigentlich zu dieser Lichtung finden sollten, traten Langes Sohn, Thomas Ritter und ein weiterer Kriminaltechniker aus dem Wald. Jeder schleppte Koffer und Gerätschaften.
Nach einer kurzen Begrüßung erklärte Ritter: »Ich wollte mich eigentlich hier nur umsehen und dann schnellstens zurück zum Haus der Singers fahren.« Er blickte kurz in den Aufenthaltsraum und sagte, als er wieder draußen war: »Ich kann meinem Mann hier die Arbeit überlassen, das schafft auch einer alleine. Ich hole ihn dann nachher wieder ab.« Als ob ihm noch rechtzeitig eingefallen wäre, dass eigentlich seine Chefin hier das Sagen hatte, hängte er seinem Entschluss noch einen fragenden Blick an.
»Einverstanden, ich fahre auch zurück«, meinte Judith Brunner und billigte die empfohlene Verfahrensweise.
»Unser Auto steht gleich da vorne in der Schneise, kommen Sie«, zeigte Ritter ihr entgegenkommend die Richtung an.
Judith, die lieber mit Walter zurückgefahren wäre, konnte nicht ablehnen, ohne begründete Nachfragen zu riskieren. »Danke, ich fahre gern mit Ihnen mit.« Der Vorschlag Ritters, den Kriminaltechniker ganz allein im Wald arbeiten zu lassen, gefiel ihr aber nicht. Sie konnte nicht wissen, ob die Singers zurückkommen würden, und regte an: »Dann lassen wir am besten den jungen Polizeihelfer auch noch hier. Falls nötig, kann er ja der Kriminaltechnik helfen.«
Den Langes gefiel der Vorschlag prächtig und überschwänglich bot der Ortspolizist an: »Ich lasse mein Mofa hier, da ist der Junge beweglicher. Vielleicht muss noch was geholt werden oder so. Ich kann doch mit Ihrem Auto mitfahren, oder?«
Das war überhaupt kein Problem, und so sah sich Walter wenig später allein durchs unwegsame Unterholz zurück zum Motorrad stapfen.
Wieder in Breitenfeld, fand Ritter seinen zweiten Mitarbeiter dabei vor, den Kühlschrank in Singers Küche zu inspizieren. Über die Schulter rief der Kollege ihm zu: »Kaum Vorräte. Nichts länger haltbar. Das reicht nur für ein, zwei Tage.«
»Und sonst? In den Schränken?«, fragte Ritter.
»Das Übliche: Mehl, Zucker, Reis, Gewürze, Backzutaten. Es sieht alles völlig normal aus, als kämen die Leute jeden Moment zurück.«
Judith Brunner, die einen Augenblick nach Ritter das Haus betreten hatte, hörte die letzte Bemerkung und war überzeugt: »Darauf können wir wohl lange warten!«
»Tja, und wonach suchen wir eigentlich?«, fragte der Kriminaltechniker.
»Wir brauchen einen Anhaltspunkt, wohin die Singers unterwegs sein könnten. Und mit wem sie in den letzten Tagen Kontakt hatten. Also Briefe, Adressen, Notizen, Landkarten ...«
»Gut.« Mit dieser Auskunft war der Mann zufrieden und begann routiniert, an den entsprechenden Stellen zu suchen.
Ritter informierte Judith Brunner: »Der Schlüssel zum Haus hing am Fallrohr, hinter dem letzten Fenster. Es ist ein ziemlich einfaches Schloss, das hätten wir auch mit der berühmten Haarnadel
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