Giftweizen
Sprint wieder etwas abzukühlen, ging er langsam. Dabei mühte er sich, auf keinen der trockenen Äste am Boden zu treten oder sonst irgendein unnötiges Geräusch zu verursachen. Vielleicht konnte er Hella Singer dadurch sogar hören, wenn sie nicht ganz so vorsichtig durch den Wald lief. Trotz des geringen Tempos hatte er die Lichtung nach gut einer Viertelstunde erreicht und sah dort, wie schon in den letzten Jahren, drei alte Wagen stehen.
Die beiden äußeren beherbergten die Bienenvölker. Die ursprüngliche Farbigkeit der verschieden bemalten Kästen war kaum noch zu erkennen. Der mittlere Wagen, der in einem früheren Leben wohl als Bauwagen gedient hatte, war unterteilt und bestand augenscheinlich zur größeren Hälfte aus einem Arbeits- oder Aufenthaltsraum für den Imker. Die andere Hälfte war ein Lagerraum. Ein quadratisches Fensterchen ließ Tageslicht in den Wagen. Aber es war zu klein, um irgendetwas vom Innenleben preiszugeben.
Jetzt sah Walter, dass er Glück mit seiner Vermutung hatte: Am Geländer einer einstmals robusten Stiege, welche aus ein paar rohen Brettern gezimmert worden war und hoch zur schmalen Tür des Wagens führte, lehnte ein Damenfahrrad. Von der Besitzerin war nichts zu sehen.
Walter ging über die Lichtung und war eben im Begriff, an die Tür zu klopfen, als diese aufschwang und Hella Singer, nach unten auf die morsche Treppe blickend, laut lachend heraustrat. So sah sie einen Augenblick zu spät auf und entdeckte den Polizisten erst, als ein Mann hinter ihr in die Tür getreten war, bei dessen Anblick Walter Dreyer spürte, wie sich ein Eisklumpen in seinem Magen bildete.
~ 54 ~
Eduard Singer lebte! Wie war das nur möglich? Seine Hände waren doch auf den Baumstämmen ... Dreyer sah fassungslos von den vorhandenen Händen zum Gesicht des Mannes auf, der ihn ebenso anstarrte. Doch die Miene Eduard Singers verriet neben dem Entsetzen auch unbändige Wut.
Walter Dreyer wurde von Panik ergriffen. Wenn Singer lebte – und immerhin stand der recht lebendig vor ihm –, dann hatten er und seine Frau nicht nur für einen gigantischen Schwindel gesorgt, sondern mit ziemlicher Sicherheit auch Menschen umgebracht. Und mit diesem mörderischen Paar war er nun alleine, mitten im Wald! Unbewaffnet. Nicht einmal sein Kollege aus Breitenfeld wusste genau, wo er war.
Walter erwog kurz, ob die beiden ihn erkannt hatten, bis ihm einfiel, dass das vermutlich gar nicht entscheidend war. Das Ehepaar wurde zusammen gesehen, das war viel gefährlicher für sie. »Was machen wir jetzt?«, fragte er, um Haltung bemüht.
Hella Singer hob die Schultern und wandte sich ruhig ihrem wartenden Mann zu: »Fahren wir gleich?«
»Sicher. Doch erst müssen wir für ihn noch eine Lösung finden«, deutete Eduard Singer mit dem Kopf auf Walter Dreyer. »Sie kommen am besten mal zu mir rein«, forderte er ihn auf, »da können wir uns unterhalten.«
»Ich fürchte, das muss ich ablehnen«, entgegnete Walter mit gepresster Stimme. Er würde bestimmt nicht freiwillig zu diesen Leuten in den Wagen steigen.
»Ihnen passiert nichts, glauben Sie mir«, versicherte Hella Singer. »Warum sollten wir Ihnen denn was tun? Was zu erledigen war, haben wir getan. Sie brauchen sich nicht zu fürchten!« Fast schien es, als könne sie Walter Dreyers Ängste tatsächlich nicht verstehen.
»Dass ich Sie beide hier entdeckt habe, spielt natürlich überhaupt keine Rolle!«, entgegnete er beißend. »Wie lange wollten Sie das Versteckspiel eigentlich durchhalten? Irgendwann hätte Sie jemand gesehen, oder?« Er sah Eduard Singer fragend an.
Der hatte sich inzwischen von dem Schreck erholt und blieb gelassen. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Das ist völlig egal. Wir müssen jetzt weg und Sie werden uns gewiss nicht aufhalten.«
»Was wollen Sie denn machen? Mir eins über den Schädel ziehen?« Walter wusste auch nicht, warum er diesen dämlichen Vorschlag machte. Hatten ihn alle guten Geister verlassen?
Singer schien diese Möglichkeit auch kurz zu erwägen, aber dann verwarf er sie wieder. »Zu dieser Sorte Menschen gehören wir nicht! Ich würde es bevorzugen, wenn wir eine weniger brutale Lösung fänden. Sehen Sie, wir benötigen nur einen kleinen Vorsprung. Dann sind Sie uns für immer los. Doch auf diesen minimalen Vorteil muss ich bestehen. Also kommen Sie endlich rein! Ich will Sie nur einsperren.«
Dreyer überlegte angestrengt. Er glaubte Eduard Singer nicht. Kein Wort. Was hatten die beiden vor? Waren sie
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